Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
ihrer Zuschauer durch eine Reihe von Taten erschüttert, für die es im Leben dieser Menschen kein Beispiel gab: die aufregende Besessenheit vom Geist, die veränderte Stimme, die Öffnung der Leibeshöhle des Patienten. Kaum war die Kontinuität des Selbstbildes dieser Menschen unterbrochen, da waren auch ihre Montagepunkte bereit, sich zu bewegen.
Don Juan rief mir ins Gedächtnis, wie er mir früher einmal die Idee eines »Anhaltens der Welt« erklärt habe. Das Anhalten der Welt, sagte er, sei für den Zauberer so bedeutsam wie Lesen und Schreiben für mich. Der Zauberer könne die Welt anhalten, indem er ein widersprüchliches Element in die Struktur der alltäglichen Verhaltensweisen einführte, um den glatten Ablauf der alltäglichen Vorgänge zu unterbrechen - Vorgänge, die wir mit dem Verstand zu registrieren pflegten.
Dieses widersprüchliche Element, sagte Don Juan, sei das »Nicht-Tun« - oder das Gegenteil von Tun. Als »Tun« bezeichnete er jeden kognitiv erklärbaren Bestandteil eines Ganzen. Nicht-Tun war also das Element, das nicht in dieses verstandesmäßig registrierte Ganze hineinpaßte.
»Als Pirscher verstehen die Zauberer das menschliche Verhalten bis in die tiefsten Verästelungen«, sagte er. »Zum Beispiel wissen sie, daß der Mensch immer auf ein geistiges Inventar angewiesen ist. Die Kenntnis der Zu- und Abgänge bei einem bestimmten Inventar - das ist's, was einen Menschen zum Schüler oder zum Meister in seinem Fach macht.
Wenn das Inventar eines Durchschnittsmenschen zusammenbricht, erweitert er einfach sein Inventar, sonst bliebe die Welt seiner Selbstbetrachtung bestehen. Der Durchschnittsmensch ist zwar bereit, neue Artikel in sein Inventar aufzunehmen, solange sie nicht die grundlegende Ordnung des Inventars stören. Wenn aber die neuen Artikel diese Ordnung stören, versagt das Denken des Durchschnittsmenschen. Denn das Inventar- das ist das Denken. Auf diese Tatsache zählen die Zauberer, wenn sie den Spiegel der Selbstbetrachtung zerbrechen.«
Damals in Guaymas, sagte er, habe er alle Akte des kleinen Dramas, mit dem er meine Kontinuität unterbrach, sorgfältig geplant. Er habe sich allmählich verwandelt, bis er ein gebrechlicher Greis war. Dann habe er mich, um den Bruch meiner Kontinuität zu vertiefen, in ein Lokal geführt, wo man ihn als alten Mann kannte. Ich fiel Don Juan ins Wort, weil mir ein Widerspruch aufgefallen war. Er hatte mir erzählt, daß er sich damals verwandelt habe, weil er wissen wollte, wie es denn sei, alt zu sein. Die Gelegenheit dazu sei einmalig günstig gewesen. Ich hatte ihn so verstanden, als sei er nie vorher ein alter Mann gewesen. Und doch kannte man ihn in diesem Lokal als gebrechlichen Greis, der an Schlaganfällen litt. »Oh, die Rücksichtslosigkeit eines Nagual ist vielseitig. Sie ist wie ein Allzweck-Werkzeug. Die Rücksichtslosigkeit ist ein Daseinszustand des Nagual. Sie ist die Stufe der Absicht, die er erreicht hat. Der Nagual benutzt seine Rücksichtslosigkeit, um seinen Montagepunkt oder den seiner Lehrlinge zu bewegen. Oder er benutzt sie zum Pirschen. Damals in Guaymas fing ich als Pirscher an. Ich tat so, als sei ich alt, und schließlich war ich tatsächlich ein schwacher Greis. Meine Rücksichtslosigkeit, die ich mit meinen Augen kontrollierte, setzte meinen Montagepunkt in Bewegung.
Ich war schon früher als kränklicher Greis in diesem Lokal gewesen. Aber ich pirschte nur und tat so, als sei ich alt. Niemals hatte mein Montagepunkt, wie an diesem Tag, die exakte Position von Alter und Senilität erreicht.«
Als Don Juan beabsichtigte, ein Greis zu sein, so erklärte er mir, hätten seine Augen ihr Leuchten verloren - was mir denn auch gleich aufgefallen sei. Ich hätte meine Unruhe nicht verbergen können. Warum hatten seine Augen ihr Leuchten verloren? fragte ich. Und er antwortete, daß sie aufhörten zu leuchten, weil er mit den Augen die Position eines Greises beabsichtigte. Und nachdem sein Montagepunkt diese Position erreichte, sei es ihm möglich gewesen, in seiner Erscheinung, in seinem Verhalten und in seinen Gefühlen ein Greis zu sein.
Ich fragte ihn, wie ich mir dieses Beabsichtigen mit den Augen vorstellen sollte? Ich glaubte es irgendwie zu verstehen, und trotzdem konnte ich mein Wissen nicht in Worte fassen - nicht einmal für mich selbst.
»Man kann es nicht mit Worten ausdrücken«, sagte er. »Allenfalls könnte man sagen, daß die Absicht mit den Augen beabsichtigt wird. Ich weiß, daß es sich
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