Die Kreatur
Diese Ereignisse in New Orleans schienen der unwiderlegbare Beweis dafür zu sein.
Das Luxe, ein Art-Déco-Palast, der in den zwanziger Jahren des gerade vergangenen Jahrhunderts erbaut worden war, war im Niedergang begriffen. Es öffnete seine Türen nur noch an drei Abenden in der Woche.
Seine Wohnung im Kino war bescheiden. Ihm erschien jedoch alles, was größer als die Zelle eines Mönchs war, trotz seiner enormen Körpergröße wie ein verschwenderischer Luxus.
Während er durch die menschenleeren Korridore des alten Gebäudes streifte, durch den Vorführsaal vom Parkett bis zu
den Rängen und durchs Foyer, überschlugen sich seine Gedanken nicht nur, sondern sie gebärdeten sich geradezu wie Flipperkugeln.
In seiner Rastlosigkeit rang er darum, sich auszumalen, wie an Victor Helios alias Frankenstein heranzukommen war. Und wie er vernichtet werden konnte.
Wie die Angehörigen der Neuen Rasse, die Victor in dieser Stadt hervorgebracht hatte, war auch Deucalion mit einer spezifischen Tötungshemmung ausgestattet worden, die den »Gottesmord« unterband: Er konnte seinen Schöpfer nicht töten.
Vor zwei Jahrhunderten hatte er seine Hand gegen Victor erhoben – und war beinah umgekommen, als er feststellen musste, dass er nicht in der Lage war, den Schlag auszuführen. Sein Schöpfer hatte die Hälfte seines Gesichts, die jetzt unter der Tätowierung verborgen war, zerstört.
Deucalions andere Wunden verheilten immer innerhalb von Minuten, was vielleicht nicht unbedingt hieß, dass Victor schon damals fähig gewesen wäre, ihn derart unverwüstlich zu konstruieren; es kam wohl eher daher, dass ihm die Blitze diese Unsterblichkeit verliehen hatten, gemeinsam mit anderen Gaben. Die einzige Wunde, die nicht spurlos verheilt war, weil Fleisch und Knochen sich in Rekordgeschwindigkeit vollendet regenerierten, war diejenige, die ihm sein Schöpfer persönlich zugefügt hatte.
Victor glaubte, sein erstes Geschöpf sei längst tot, wie auch Deucalion angenommen hatte, sein Schöpfer sei im achtzehnten Jahrhundert gestorben. Wenn er sich Victor zu erkennen gab, würde Deucalion sofort wieder außer Gefecht gesetzt werden – und diesmal würde er es vielleicht nicht überleben.
Da sich Victors Schöpfungsmethoden seit seinen Anfangszeiten drastisch verbessert hatten – keine Grabräuberei mehr und auch kein Zusammenstückeln –, war mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass seiner Neuen Rasse
auch in die grauen Zellen einprogrammiert worden war, ihren Schöpfer unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen.
Wenn Carson und Michael Victor nicht entlarven konnten, würde es ihnen vielleicht nur möglich sein, ihm Einhalt zu gebieten, indem sie ihn töteten. Und um an ihn heranzukommen, würden sie sich einen Weg durch ein Heer von Neuen Männern und Neuen Frauen bahnen müssen, die fast so schwer zu töten waren wie Roboter.
Deucalion verspürte beträchtliche Gewissensbisse und sogar einen Anflug von Reue, weil er den beiden Detectives die Wahrheit über Helios erzählt hatte. Damit hatte er sie in ungeheure Gefahr gebracht.
Sein Gewissen wurde durch den Umstand besänftigt, dass sie ohnehin unwissentlich in Lebensgefahr geschwebt hatten, was nun nur noch auf sämtliche andere menschlichen Bewohner von New Orleans zutraf, ganz gleich, wie viele es noch gab.
Diese Gedanken bedrückten ihn, und das hartnäckige Gefühl, eine entscheidende Wahrheit entzöge sich ihm, ließ ihn nicht los, als Deucalion schließlich die Vorführkabine betrat.
Jelly Biggs, der auf den Jahrmärkten einst als der fetteste Mann auf Erden angepriesen wurde, war jetzt nicht mehr die Wucht von damals, sondern nur noch fett. Auf der Suche nach der Lektüre, die ihm vorschwebte, wühlte er gerade in den Stapeln von Taschenbüchern, die er hier aufbewahrte.
Hinter dem Vorführraum lag Jellys Zweizimmerwohnung. Er war gemeinsam mit dem Kino, einem von ihm geführten Unternehmen, das sich selbst trug, ohne etwas abzuwerfen, an Deucalion übergegangen.
»Ich will einen Kriminalroman, in dem alle rauchen wie die Schlote«, sagte Jelly, »und hochprozentige Schnäpse trinken und von vegetarischer Kost noch nie etwas gehört haben.«
Deucalion sagte: »In jedem Kriminalroman kommt ein Punkt – das stimmt doch, oder? –, an dem der Detective das
Gefühl hat, er hätte die Lösung direkt vor seinen Augen, aber er kann sie einfach nicht erkennen.«
Jelly, der ein Buch nach dem anderen verwarf, murmelte: »Ich will keinen Indianer
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