Die Kreatur
sichtbar.
Erika genoss auch das subtile Aroma des Wassers, die Frische. Sie atmete den Geruch der Duftseife tief ein, dampfende Wolken von Wohlgeruch. Und nach der Seife empfand sie den Duft ihrer sauberen Haut als äußerst angenehm.
Da sie ihre Bildung durch den Download von Daten direkt ins Gehirn erlangt hatte, war sie mit einem umfassenden Wissen über die Welt erwacht. Aber Fakten waren nichts im Vergleich zu Erfahrungen. All diese Billionen von Bits, die als Daten in ihr Gehirn geströmt waren, hatten im Vergleich zu der Tiefe und Leuchtkraft der wahren Welt lediglich eine eintönige Geisterwelt gezeichnet. Alles, was sie im Tank gelernt hatte, war nichts weiter als ein einzelner Ton, der auf einer Gitarre gezupft wird, bestenfalls ein Akkord, wogegen die wahre Welt eine Symphonie von erstaunlicher Komplexität und Schönheit war.
Das Einzige, was ihr bisher hässlich erschien, war Victors Körper.
Da er der Verbindung eines Mannes mit einer Frau entsprungen
war und die Übel des sterblichen Fleischs geerbt hatte, hatte er im Lauf der Jahre außerordentliche Maßnahmen ergriffen, um sein Leben zu verlängern und seine Vitalität zu erhalten. Sein Körper war von runzligen Narben und knotigen Auswüchsen überzogen.
Ihr Ekel war undankbar und ungehörig, und sie schämte sich dafür. Victor hatte ihr das Leben geschenkt, und alles, was er als Gegenleistung dafür verlangte, war Liebe oder etwas dergleichen.
Sie hatte ihre Abneigung verborgen, doch er musste sie trotzdem wahrgenommen haben, denn er war während des Sexualakts wütend auf sie gewesen. Er hatte sie oft geschlagen und sie mit keineswegs schmeichelhaften Namen bedacht und war alles in allem grob mit ihr umgegangen.
Sogar der Download von Daten direkt ins Gehirn hatte Erika genügend Anhaltspunkte gegeben, um zu wissen, dass das, was sie gemeinsam erlebt hatten, kein idealer Sex gewesen war – und noch nicht einmal der übliche.
Ungeachtet des Umstands, dass sie ihn bei ihrem ersten Liebesakt enttäuscht hatte, hegte Victor offenbar immer noch gewisse zärtliche Gefühle für sie. Als es vorbei war, hatte er ihr einen liebevollen Klaps auf den Po gegeben – ganz anders als die Wut, mit der er sie bis dahin geschlagen und misshandelt hatte – und gesagt: »Das war gut.«
Sie wusste, dass er das nur aus Freundlichkeit zu ihr gesagt hatte. Es war nämlich überhaupt nicht gut gewesen. Sie musste lernen, in seinem hässlichen Körper ein Kunstwerk zu sehen, wie man es offenbar auch lernen konnte, in den hässlichen Gemälden von Jackson Pollock Kunstwerke zu sehen.
Da Victor von ihr erwartete, dass sie sich an den intellektuellen Gesprächen bei den Abendgesellschaften beteiligen konnte, zu denen er in regelmäßigen Abständen die Elite der Stadt einlud, waren kurz vor ihrer Vollendung im Tank dicke Bände Kunstkritik in ihrem Gehirn gespeichert worden.
Ein großer Teil davon schien ihr nicht einleuchtend zu sein, was sie auf ihre Naivität zurückführte. Ihr IQ war hoch; daher würde sie, wenn sie erst einmal mehr Erfahrungen gesammelt hatte, zweifellos mit der Zeit verstehen können, wie das Hässliche, das Armselige, das Verhunzte tatsächlich auf seine Weise von berauschender Schönheit sein konnte. Sie musste lediglich die richtige Perspektive dazu einnehmen.
Sie würde darum ringen, die Schönheit in Victors gemartertem Fleisch zu sehen. Sie würde ihm eine gute Ehefrau sein, und sie würden so glücklich werden wie Romeo und Julia.
Tausende von literarischen Bezugnahmen waren Bestandteil ihrer Unterweisung gewesen, nicht jedoch die Texte der Bücher, Theaterstücke und Gedichte, aus denen die Zitate stammten. Sie hatte Romeo und Julia nie gelesen. Sie wusste nur, dass die beiden ein berühmtes Liebespaar in einem Stück von Shakespeare waren.
Vielleicht hätte es ihr Spaß gemacht, die Werke zu lesen, auf die sie mit solcher Leichtigkeit anspielen konnte, aber das hatte ihr Victor verboten. Offenbar hatte sich Erika vier zu einer unersättlichen Leserin entwickelt, und eben dieses Hobby hatte sie in so schreckliche Schwierigkeiten gestürzt, dass Victor gar keine andere Wahl geblieben war, als sie auszuschalten.
Bücher waren gefährlich, ein verderblicher Einfluss. Eine gute Ehefrau musste Bücher meiden.
Nachdem sie geduscht hatte, zog Erika ein sommerliches Kleid aus gelber Seide an, in dem sie sich hübsch fühlte, und verließ das eheliche Schlafzimmer, um die Villa zu erkunden. Sie kam sich vor wie die namenlose
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