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Die Kreuzfahrerin

Die Kreuzfahrerin

Titel: Die Kreuzfahrerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nowicki
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zu einem Ergebnis kam sie nicht. An manchen Tagen konnte sie sich kaum etwas Besseres vorstellen, als dass alles so bliebe, wie es war. An anderen Tagen wäre sie gerne wieder ein kleines Mädchen gewesen. Sie sprach mit Ester, während sie gemeinsam die am Balken zum Trocknen hängenden Kräuter überprüften und die getrockneten Blätter von Stielen befreiten, um sie anschließend in Gefäßen oder Stoffbeuteln zu verwahren. Dazu saßen sie beide in einem Eck der Stube, nahe genug am Herdfeuer, um ausreichend Licht zu haben, und weit genug entfernt von den anderen, um flüsternd Gespräche zu führen, die nicht jeder hören sollte. „Um zu wissen, was man will, muss man wissen, wer man ist“, gab Ester ihr zur Antwort. „Wer bist du, was kannst du, und womit hat dich unser Herrgott gesegnet?“ Ursula sah Ester verwundert an. „Ja, aber …“, hob sie an, doch Ester bedeutete ihr zu schweigen. „Du bist die Tochter deiner Eltern. Das darfst du nie vergessen. Versuche dich an sie zu erinnern. Wer waren sie? Was hast du von ihnen? Vielleicht Ähnlichkeit, einen Charakterzug? Worin bist du gut, was macht dir Freude? Was magst du nicht? Alle diese Fragen musst du dir beantworten, bevor du für dich findest, was du willst. Ach, mein Kind, versuche stark zu sein. Belaste deinen Kopf nicht mit zu vielen Grübeleien. Beantworte dir die eine oder andere Frage und hab Geduld. Den Rest wird der Herr schon richten.“ Mit diesen Worten nahm Ester Ursulas Hand und drückte sie kurz und fest, dann strich sie ihr mit dem Handrücken über die Wange und widmete sich wieder ihrer Arbeit. „Wenn der Winter noch sehr lange dauert, werden wir nicht genug Kraut gegen den Husten haben.“ Sie deutete auf das, was sie noch an Salbei- und Minzblättern im Vorrat hatten. Ursula sah ihren besorgten Blick und wusste, diese Sorge galt nicht den anderen allein, sondern Ester wusste genau, was für eine Qual die Wochen für sie werden würden, ohne die Hilfe von Kräutertees. „Wart’, ich habe im Sommer einige Sträuße unter dem Dach der Scheune aufgehängt. Ich werde schauen, ob sie noch zu gebrauchen sind“, berichtete Ursula rasch, um die Alte zu beruhigen, und vergaß dabei sogar, ihre Stimme zu dämpfen, so dass alle im Raum sich verwundert zu ihr umdrehten. „Ja, mach das, mein Kind“, nickte ihr Ester aufmunternd zu und beugte sich dann wieder über eines der Kräutersäckchen. Ursula warf sich eine Decke über und ging zur Tür. Sie merkte nicht, wie Ludgers Blick ihr folgte. Sie spähte hinaus und schlüpfte dann schnell durch den Türspalt, um so wenig kalte Luft wie möglich hineinzulassen. Drinnen in der Stube streckte sich Ludger: „Ach, dieses ewige Rumhocken! Ich geh mal noch Holz holen“, sagte er und schritt zur Tür. Diesmal waren es Esters Augen, die alles verfolgten, und auch Ute sah kurz auf und dachte sich ihren Teil.
    In der Scheune angekommen verschloss Ursula die Türe hinter sich und arbeitete sich dann durch das Heu. Im Halbdunkel suchte sie den Balken zu erkennen, an dem sie im Sommer die Kräuter zum Trocknen aufgehängt hatte. Als sie die unter dem Dach hängenden Sträuße schließlich entdeckte, fiel ihr ein, dass sie im Sommer dafür auf dem Hackklotz gestanden hatte.
    Der war aber nun beiseitegeräumt, und sie konnte ihn nirgends sehen. Da ging plötzlich die Türe auf, und Ursula erkannte Ludger, der das Gatter schnell hinter sich wieder zudrückte. Ursula erschrak und wäre am liebsten zurück ins Haus gelaufen, aber Ludger stand vor der Tür, und ohne die Kräuter konnte sie jetzt auch nicht wieder reinkommen. Also nahm sie all ihren Mut zusammen. „Ach Ludger, du bist es“, sagte sie und versuchte dabei so gleichmütig wie nur möglich zu klingen. „Kannst du mir helfen? Ich komme an den Balken nicht ran.“
    Ludger kam zu ihr. „Nichts leichter als das“, sagte er triumphierend, packte sie am Unterleib und hob sie hoch. Rasch griff sie ein trockenes Krautbündel nach dem anderen und ließ sie auf den Boden fallen. „So, das war’s. Kannst mich wieder runterlassen“, gab sie Bescheid. Ganz langsam senkte Ludger seine Arme und ließ das Mädchen an sich entlanggleiten. Er wollte, dass sie seine Kraft spürte, auf die er so stolz war. Schließlich hatte Ursula dann doch wieder Boden unter den Füßen und sah zu dem Jungbauern auf, der sie um mehr als einen Kopf überragte. „Danke“, sagte sie schlicht und hätte sich gerne den Kräutern gewidmet, aber Ludger ließ sie noch nicht

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