Die Kreuzzüge
kleinere »Kreuzzüge«. Das lag zum Teil daran, dass viele im ersten Kreuzzug ein einzigartiges, erstaunliches Ereignis sahen, das eigentlich nicht wiederholt werden konnte. Jahrhundertelang betrachtete man die bewaffnete Pilger-Massenbewegung, die nach der Predigt Urbans II. im Jahr 1095 in Gang kam, aus der Perspektive der später Geborenen als den ersten in einer fortgesetzten Reihe von Kreuzzügen, das heißt als den Beginn der Kreuzzugsbewegung. Doch war diese »Zukunft« im frühen 12. Jahrhundert noch überhaupt nicht absehbar, und die Kreuzzugsidee musste sich erst noch herausbilden.
Bis zu einem gewissen Grad kann dieser Mangel an Enthusiasmus und die nur begrenzte ideologische Ausdifferenzierung durch äußere Umstände entschuldigt werden. Der Spielraum des Papstes, sich die Kreuzzugsidee zunutze zu machen und sie weiterzuentwickeln, war durch einige Faktoren eingeschränkt: zunächst durch ein päpstliches Schisma zwischen 1124 und 1138, als mehrere Gegenpäpste um das höchste Amt stritten; dazu kam der wachsende Druck auf Rom durch die rivalisierenden Mächte im Heiligen Römischen Reich im Norden und durch das aufstrebende normannische Königreich Sizilien im Süden. Einige dieser Probleme waren auch in der Zeit des zweiten Kreuzzugs noch spürbar – im Jahr 1145 war es dem Papst nicht einmal möglich, sich in Rom aufzuhalten. Ähnliche Erschütterungen bewegten die weltlichen Stände. Deutschland war von internen Machtkämpfen zerrissen, die beiden Adelsgeschlechter der Staufer und der Welfen stritten sich um die Macht. England hatte während der stürmischen Regierungszeit von König Stephan (1135 – 1154), dem Sohn des Kreuzritters Stephan von Blois, unter einem Bürgerkrieg zu leiden. Unter den Kapetingern erfreute sich die französische Monarchie größerer Stabilität, doch fing sie ja auch gerade erst an, ihre Autorität über die Grenzen ihres Territoriums um Paris herum geltend zu machen.
[219] Es gibt einen weiteren Aspekt der Kreuzzugsideologie, der möglicherweise mit daran schuld war, dass eine neue Anwerbung nur schleppend in Gang kam. Die Prediger des ersten Kreuzzugs erwähnten zwar die spirituelle oder soziale Verpflichtung, das Heilige Land zurückzuerobern, doch im Wesentlichen kam die Unternehmung von 1095 deswegen bei den lateinischen Christen so gut an, weil sie als ein zutiefst persönlicher Akt von Frömmigkeit vorgestellt wurde. Tausende nahmen das Kreuz, weil sie sich von der Teilnahme am heiligen Krieg Erlösung von ihren Sünden versprachen. Der Grund für die Teilnahme am Kreuzzug war Frömmigkeit, doch handelte es sich gewissermaßen um eine eigennützige Form von Frömmigkeit. Die bewaffnete Pilgerfahrt in den Osten war eine äußerst mühevolle, gefährliche und teure Unternehmung; die Teilnahme an einem Kreuzzug war also ein sehr extremer Weg zum Heil. Viele zogen gebräuchlichere, leichter zugängliche Bußaktivitäten vor: Gebet, Almosengeben, Wallfahrten zu heiligen Orten in der näheren Umgebung. In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten sollte sich zeigen, dass eigentlich nur welterschütternde Katastrophen in Verbindung mit machtvollen Predigtaktivitäten und der aktiven Teilnahme des hohen Adels Kreuzzugsbewegungen größeren Ausmaßes anstoßen konnten.
Das heißt nun nicht, dass es zwischen 1101 und 1145 keinen Kreuzzug gab. Einige Kirchenmänner und auch ein paar Adlige machten zweifellos sporadische Versuche, in dieser Zeit den ersten Kreuzzug zu wiederholen oder nachzuahmen, indem sie durch Predigten oder aktive Teilnahme Unternehmungen beförderten, die einige oder auch alle Merkmale dessen aufwiesen, was sich dann irgendwann als notwendige Elemente eines Kreuzzugs herauskristallisieren sollte: der päpstliche Erlass, das Ablegen eines vorgeschriebenen Gelübdes und das Symbol des Kreuzes an der Kleidung sowie das Versprechen eines geistlichen Lohnes (oder eines Ablasses) im Austausch gegen militärischen Dienst. Doch blieb die eigentliche Natur des Kreuzzugs relativ verschwommen und kaum festgelegt. Grundlegende Fragen – etwa: Wer darf zu einem Kreuzzug aufrufen? Welcher Lohn steht den Teilnehmern zu? Gegen wen darf sich diese Form heiliger Kriegsführung richten? – blieben größtenteils unbeantwortet.
Nach 1120 wurden zwei bedeutende Kreuzzüge in das Heilige Land angestoßen. Dabei war der venezianische Kreuzzug (1122 – 1124) mit Sicherheit [220] von Papst Calixtus II. verfügt; zu dem Zug nach Damaskus 1129 rief in Europa wohl Hugo
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