Die Kreuzzüge
Verbündeter hatte sich in einen Feind verwandelt, und gleichzeitig befand sich sein Gegner Aleppo im Aufwind. Die Gefahr eines Domino-Effekts, mit dem Schwäche und Verwundbarkeit sich in den Süden fortpflanzen und nach und nach zum Zusammenbruch der noch übrig gebliebenen lateinischen Staaten führen konnten, war nur zu offensichtlich. Der fränkische Chronist Wilhelm von Tyrus spricht von der »verhängnisvollen Katastrophe« des Jahres 1144 und bemerkt, dass nun die sehr reale Gefahr bestand, dass die muslimische Welt »den gesamten Osten ungehindert überrannte«. *
[216] Der Schock, den dieses Ereignis auslöste, muss gewaltig gewesen sein. Nie zuvor war eine der vier großen Hauptstädte von Outremer vom Islam erobert worden. Edessa, die erste Stadt im Osten, die von den Kreuzfahrern erobert worden war, hatte fast ein halbes Jahrhundert unangetastet überstanden. Nach dem plötzlichen Verlust der Stadt durchlief ein Schauder der Furcht und der bösen Vorahnungen die gesamte lateinische Levante, der Zuversicht und Moral nachhaltig untergrub. Das Bewusstsein von der Unbesiegbarkeit der Christen löste sich in Luft auf; der Traum von Outremer – von einer dauerhaften, durch das Wirken Gottes gefestigten Besiedelung des Heiligen Landes – war zerschlagen. Und was die Sache noch schlimmer machte: Zangi, lange Zeit nur eine ferne, ungreifbare Bedrohung, würde wohl wissen, wie er von seinem Sieg profitieren konnte, und den Islam zu noch größeren Anstrengungen im Krieg um die Herrschaft im Vorderen Orient anstacheln.
Als diese schlimmen Nachrichten in Europa eintrafen, fanden sie sogleich ihren Niederschlag in den Schriften des berühmten Abts Bernhard von Clairvaux; in einem Brief heißt es: »[. . .] die Erde bebt, weil der Herr des Himmels sein Land verliert [. . .]. Der Feind des Kreuzes beginnt, dort sein lästerliches Haupt zu erheben und mit dem Schwert jenes gesegnete Land, jenes Land der Verheißung zu verwüsten.« Bernhard warnte vor der Gefahr, dass das heilige Jerusalem selbst, »die wahre Stadt des lebendigen Gottes«, eingenommen werden könnte. Die Antwort des lateinischen Ostens, aber auch der gesamten abendländischen Christenheit konnte nur der Aufruf und Aufbruch zu einem neuen Kreuzzug sein. 22
6
[217] WIEDERGEBURT DER KREUZZUGSIDEE
D ie Einnahme Edessas erschütterte die Levante. Im Jahr 1145 reisten fränkische und armenische Gesandte nach Europa, um die verhängnisvollen Nachrichten zu überbringen und die tödliche Gefahr zu schildern, die nun über sämtlichen Christen im Vorderen Orient dräute. Als Reaktion darauf sollte die lateinische Welt eine riesige militärische Unternehmung in Gang setzen, die unter der Bezeichnung »zweiter Kreuzzug« in die Geschichte einging. 1 Zum ersten Mal waren unter den Beteiligten auch Könige aus Westeuropa, und nach einer gewaltigen Rekrutierungskampagne machten sich ungefähr 60 000 Menschen auf den Weg in den Orient, um Outremer zu retten. Gleichzeitig wurden die Kriege für das Kreuz zu neuen Schauplätzen getragen, auf die Iberische Halbinsel und ins Baltikum. Es handelte sich also um einen gewaltigen, so noch nicht dagewesenen Ausbruch der Begeisterung für den Kreuzzugsgedanken; er übertraf sogar die Begeisterung in den Jahren nach 1095. Vermochte dieser Enthusiasmus den Erfolg zu garantieren? Und wie würde dieses Wiederaufleben des christlichen heiligen Krieges die zukünftige Geschichte der Kreuzzüge beeinflussen?
DER KREUZZUGSGEDANKE IM FRÜHEN 12. JAHRHUNDERT
Die stürmische Reaktion im lateinischen Europa auf die Aufrufe zum zweiten Kreuzzug lässt sich angemessen nur vor dem Hintergrund der Entwicklungen verstehen, die sich in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Kreuzzugsvorstellung vollzogen. Die »wundersame« Eroberung des Heiligen Landes durch die ersten Kreuzfahrer hatte in der Levante einen fragilen lateinischen Vorposten entstehen [218] lassen; sie schien einen sicheren Beweis zu liefern, dass Gott diese neue Mischung aus Pilgerschaft und Kriegsführung billigte. Unter diesen Umständen wäre zu erwarten gewesen, dass die ersten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts von einer Flut kreuzzugsähnlicher Aktivitäten geprägt waren, dass Westeuropa also diese Ausdehnung des christlichen heiligen Krieges begeistert annehmen und Outremer verteidigen würde. Das war jedoch nicht der Fall. Die Erinnerung an den ersten Kreuzzug behielt zwar ihre Ausstrahlung, doch in den Jahren vor 1144 gab es nur wenige
Weitere Kostenlose Bücher