Die Kreuzzüge
eines monolithischen islamischen Staates einher. Die muslimischen Herrscher auf der Iberischen Halbinsel (auch Mauren genannt) spalteten sich ab und gründeten im 8. Jahrhundert ein unabhängiges Reich, und die Kluft zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Strang des Islams wurde immer größer. Gemeinschaften von schiitischen Muslimen lebten im Vorderen Orient nach wie vor größtenteils friedlich neben und unter Sunniten. 969 gelangte eine besonders entschlossene Gruppe von Schiiten in Nordafrika an die Macht. Sie wurden von der Dynastie der Fatimiden (die ihre Herkunft von Fatima, der Tochter Mohammeds, ableiten) unterstützt und setzten einen eigenen schiitischen Kalifen ein, womit sie sich von der Autorität der Sunniten in Bagdad lossagten. Die Fatimiden entpuppten sich bald als mächtige Gegner – sie entrissen den Abbasiden große Teile des Vorderen Orients, darunter Jerusalem, Damaskus und Teile der östlichen Mittelmeerküste. Im ausgehenden 11. Jahrhundert waren [33] Abbasiden und Fatimiden unversöhnliche Gegner geworden. Zur Zeit der Kreuzzüge war der Islam also durch ein tiefgreifendes Schisma belastet, das die muslimischen Herrscher Ägyptens und des Iraks daran hinderte, der christlichen Invasion einen koordinierten, gemeinsamen Widerstand entgegenzusetzen.
Während sich die Fronten zwischen Sunniten und Schiiten verhärteten, ging der Machteinfluss der abbasidischen und der fatimidischen Kalifen immer mehr zurück. Sie dienten nur noch als Repräsentationsfiguren, die zwar theoretisch die absolute Autorität in Fragen der Religion und der Politik hatten, faktisch aber war die Exekutivgewalt auf ihre Statthalter übergegangen: in Bagdad auf den Sultan, in Kairo auf den Wesir.
Ein weiteres Ereignis veränderte die islamische Welt im 11. Jahrhundert von Grund auf: das Auftauchen der Türken. Seit ungefähr 1040 begannen diese Nomadenstämme aus Zentralasien, die bekannt waren für ihren kriegerischen Charakter und ihre überragenden Fähigkeiten als berittene Bogenschützen, in den Vorderen Orient einzudringen. Ein türkischer Stamm aus den russischen Steppen jenseits des Aralsees, die Seldschuken, führte diese Wanderbewegung an. Diese furchteinflößenden Krieger traten zum sunnitischen Islam über und sicherten dem Kalifen der Abbasiden unverbrüchliche Treue zu. Bereitwillig lösten sie die mittlerweile sesshaft gewordene arabische und persische Aristokratie im Iran und im Irak ab. Als 1055 der seldschukische Stammesfürst Tughrul Beg zum Sultan von Bagdad ernannt wurde, war er damit faktisch im Besitz der Oberherrschaft über den sunnitischen Islam, ein Amt, das die Angehörigen seiner Dynastie als Erbrecht über ein Jahrhundert lang beibehielten. Das Auftreten der seldschukischen Türken bescherte der abbasidischen Welt einen neuen, vitalen Aufschwung. Ihre energische Rastlosigkeit und kriegerische Wildheit verschaffte ihnen immense Gebietsgewinne. Im Süden wurden die Fatimiden zurückgedrängt, Damaskus und Jerusalem zurückerobert und beachtliche Siege gegen die Byzantiner in Kleinasien erfochten; später gründete eine seldschukische Splittergruppe ein eigenes unabhängiges Sultanat in Anatolien.
Seit 1090 hatten die Seldschuken die sunnitisch-muslimische Welt grundlegend verändert. Tughrul Begs fähiger, ehrgeiziger Enkel Malik Schah war Sultan und teilte sich mit seinem Bruder Tutusch relativ unangefochten die Herrschaft über Mesopotamien und den größten Teil [34] der Levante. Dieses neue türkische Reich, das Große Seldschukische Sultanat von Bagdad, gründete auf rücksichtslosem Despotismus und einer unerbittlichen Gegnerschaft zu den Schiiten, die als gefährliche, ketzerische Feinde galten, gegen die alle Sunniten vereint auftreten mussten. Als Malik Schah 1092 starb, brach sein mächtiges Reich allerdings rasch im Bürgerkriegschaos zusammen. Seine beiden jungen Söhne kämpften um das Amt des Sultans und stritten um die Herrschaft über den Iran und den Irak; in Syrien versuchte Tutusch an die Macht zu kommen. Als er im Jahr 1095 ebenfalls starb, stritten auch seine Söhne Ridwan und Duqaq um das Erbe, einer riss Aleppo, der andere Damaskus an sich. Im schiitischen Ägypten war die Lage nicht besser. Auch hier hatte der plötzliche Tod des Fatimiden-Kalifen und seines Wesirs 1094 und 1095 zu einem abrupten Wechsel geführt, der im Aufstieg eines neuen Wesirs armenischer Herkunft, al-Afdal, gipfelte. In ebendem Jahr, als die Kreuzzüge begannen, war also der
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