Die Kreuzzüge
sunnitische Islam in einem Zustand stürmischer Unordnung, und der neue Kalif im fatimidischen Ägypten trat gerade erst seine Herrschaft an. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Christen im Abendland von all dem Kenntnis hatten; sie können also nicht als Auslöser für den heiligen Krieg gelten. Der Beginn des ersten Kreuzzugs erfolgte allerdings zu einem bemerkenswert günstigen Zeitpunkt. 9
Der Vordere Orient am Ende des 11. Jahrhunderts
Die chronische Zwietracht innerhalb der islamischen Welt am Ende des 11. Jahrhunderts sollte den Verlauf der Kreuzzüge entscheidend beeinflussen, ebenso wie der kulturelle, ethnische und politische Charakter des Vorderen Orients. Streng genommen kann man diese Region – das Schlachtfeld des Krieges um das Heilige Land – nicht als muslimische Welt bezeichnen. Die relativ ausgeprägte Toleranz im Umgang mit Andersgläubigen, wie sie für die frühen arabisch-islamischen Eroberungen typisch war, bedeutete, dass noch Jahrhunderte später in der Levante verhältnismäßig viele einheimische Christen – von Griechen und Armeniern bis zu Syrern und Kopten – ebenso wie jüdische Bevölkerungsgruppen lebten. Nach wie vor durchstreiften beduinische Nomaden den Orient – arabisch sprechende Muslime, die kaum feste Bündnisbeziehungen unterhielten. Über diesem seit langem bestehenden [35] Siedlungsmuster gab es die kleine muslimische Herrschaftselite, die sich aus Arabern, einigen Persern und den neu hinzugekommenen Türken zusammensetzte. Der Vordere Orient war kaum mehr als ein nur lose zusammengefügter Flickenteppich aus verschiedenartigen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen, also alles andere als eine in sich geschlossene islamische Festung.
Mit Blick auf die wichtigsten Zentren der muslimischen Welt war die Levante außerdem eher Provinz – ungeachtet der politischen und geistigen Bedeutung, die einzelnen Städten wie Jerusalem und Damaskus zugeschrieben wurde. Für die sunnitischen Seldschuken und die schiitischen Fatimiden waren die eigentlichen Zentren der regierenden Macht, des Wohlstands und der kulturellen Identität Mesopotamien und Ägypten. Die Levante war der Grenzbereich zwischen diesen beiden Einflusssphären, eine Welt, um die zwar immer wieder gestritten wurde, die aber zumeist dennoch als zweitrangig eingestuft wurde. Selbst während der Regierungszeit des Sultans Malik Schah wurde kein entschlossener Versuch unternommen, Syrien in das Sultanat zu integrieren, und der Großteil des Gebiets verblieb in der Hand machthungriger, relativ unabhängiger Stammesfürsten.
Als daher die Heere der lateinischen Kreuzfahrer dort ankamen, um Kriege zu führen, die eigentlich Grenzkriege waren, drangen sie nicht in das Kernland des Islams ein. Sie kämpften vielmehr um die Herrschaft über einen Landstrich, der in mancherlei Hinsicht auch eine muslimische Grenze war. Hier lebte eine Mischbevölkerung aus Christen, Juden und Muslimen, die sich im Lauf der Jahrhunderte an die Erfahrung gewöhnt hatte, von fremden Mächten – seien es nun Byzantiner, Perser, Araber oder Türken – erobert zu werden.
Islamische Kriegsführung und Dschihad
Am Ende des 11. Jahrhunderts befanden sich Strategie und Taktik der muslimischen Kriegsführung in einem Übergangsstadium. Die Hauptstütze jeglicher türkischen Streitmacht waren berittene Krieger auf schnellen Pferden, leicht bewaffnet mit einem gefährlichen Kompositbogen, mit dem sie einen Hagel von Pfeilen aus dem Sattel abschießen konnten. Teilweise waren sie auch mit einer leichten Lanze, einem einschneidigen Schwert, einer Axt oder einem Dolch ausgerüstet. Der Vorteil [36] dieser Truppen lag in ihrer Schnelligkeit und Wendigkeit, wenn es darum ging, einen Gegner zu überwältigen.
Die Türken machten traditionell von zwei Taktiken Gebrauch: der Einkreisung – bei der der Feind von einer wirbelnden Masse berittener Krieger in schneller Bewegung umringt und mit Pfeilhageln beschossen wurde; und dem Scheinrückzug – der Technik, sich mitten in der Schlacht scheinbar zur Flucht umzuwenden, um den Gegner zu kopfloser Verfolgung zu veranlassen; in der augenblicklich entstehenden allgemeinen Verwirrung löste sich die Formation des Gegners auf, und er wurde für eine unvermittelte Gegenattacke verwundbar. Diesen Kampfstil bevorzugten noch die Seldschuken Kleinasiens; die Türken in Syrien und Palästina dagegen hatten ein größeres Repertoire persischer und arabischer Militärstrategien übernommen, die sich an den
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