Die Kreuzzüge
Vorderen Orient ansah. Zu Beginn der 1160er-Jahre unternahm er keinen gezielten Versuch, auf die Franken direkten militärischen oder diplomatischen Druck auszuüben – im Gegenteil, zwei Gelegenheiten ließ der Emir ungenutzt verstreichen. Im Jahr 1160 wurde Rainald von Châtillon von einem der Hauptleute Nur ad-Dins gefangen genommen und in Aleppo eingekerkert (er sollte dort die folgenden 15 Jahre verbringen), doch statt die Periode der Schwäche auszunutzen, in der sich Antiochia befand, nachdem der junge Bohemund III. an die Macht gekommen war, zog Nur ad-Din es vor, mit Jerusalem einen neuen Waffenstillstand auf zwei Jahre auszuhandeln. Auch im Frühjahr 1163, als König Balduin III. im Alter von erst 33 Jahren an einer Krankheit starb, kam von Nur ad-Din keine Reaktion. Ein lateinischer Chronist schrieb dies dem vornehmen Charakter des Emirs zu:
Als man ihm nahelegte, er könne ja, während wir mit den Begräbnisfeierlichkeiten beschäftigt waren, in das Land seiner Feinde eindringen und es verwüsten, soll er geantwortet haben: »Wir sollten in ihrer Trauer mit ihnen fühlen und sie aus Mitleid verschonen, denn sie haben einen Fürsten verloren, wie es auf der Welt heute keinen mehr gibt.«
[281] In diesem Zitat bei Wilhelm von Tyrus klingt die tiefe Bewunderung durch, die der Erzbischof für Balduin III. hegte; in arabischen Quellen findet sich allerdings kein Hinweis darauf, dass Nur ad-Dins Entscheidung irgendetwas mit Mitgefühl zu tun hatte. Teilweise ist seine Untätigkeit darauf zurückzuführen, dass er, wie wir noch sehen werden, begonnen hatte, seine Ambitionen in Richtung Süden, nach Ägypten, zu verlagern. Doch hängt sie auch mit seinen ständigen Problemen in Kleinasien und Mesopotamien zusammen und damit, dass der Dschihad gegen die Franken nicht den absoluten Vorrang hatte. 9
VERSUCH UND ERFOLG
Seit dem Frühjahr 1163 jedoch scheint sich Nur ad-Dins Einschätzung seiner eigenen Rolle im Krieg um das Heilige Land geändert zu haben, und sein Engagement für die Sache nahm zu. Im Mai führte der Emir einen Stoßtrupp in die nördlichen Gebiete der Grafschaft Tripolis und schlug im Bouqia-Tal sein Lager auf, in der weiten Ebene zwischen den Ansariyah-Bergen im Norden und den Bergen des Libanons im Süden. Als das bekannt wurde, beschlossen die Franken Antiochias, kürzlich verstärkt durch eine Pilgergruppe aus Aquitanien und durch griechische Soldaten, unter der Führung des Tempelritters Gilbert von Lacy einen Angriff zu wagen.
Die zangidischen Truppen rechneten nicht mit einer solchen Bedrohung: Schockiert sah eine Vorhut der Zangiden das riesige christliche Heer aus den Ausläufern des Ansariyah-Gebirges herankommen. Nach einem kurzen Schlagabtausch wurde die Vorhut in die Flucht geschlagen, die Truppen eilten zurück in das Hauptlager Nur ad-Dins, der Feind folgte ihnen direkt auf den Fersen. Ein muslimischer Chronist beschrieb später, wie beide Heere »gleichzeitig ankamen«, so dass die überrumpelten Muslime »ihre Pferde nicht mehr besteigen und nicht zu den Waffen greifen konnten, bevor die Franken auch schon da waren und viele von ihnen töteten und gefangen nahmen«. Ein lateinischer Zeitgenosse erinnert sich, dass »[Nur ad-Dins] Heer fast vernichtet wurde, [während] der Fürst selbst, dem es nur noch ums nackte Überleben ging, die Flucht ergriff. All seine Habe und sogar sein Schwert ließ er zurück. Barfuß, auf einem Lasttier reitend, entging er nur knapp der Gefangennahme.« [282] Muslimische Quellen bestätigen, wie schmachvoll diese Niederlage und der Rückzug Nur ad-Dins waren, und sie fügen hinzu, er habe in seiner Verzweiflung ein Pferd bestiegen, dessen Beine noch zusammengebunden waren, und sei nur durch die Tapferkeit eines Kurden aus seinem Gefolge gerettet worden, der herbeieilte und die Fesseln löste, aber dabei selbst ums Leben kam.
Fassungslos über diese Erniedrigung eilte Nur ad-Din mit einer kleinen Gruppe Überlebender nach Homs zurück. Der Schrecken dieser unvorhergesehenen Katastrophe scheint sich tief in seine Seele eingebrannt zu haben, und seine Reaktion in den folgenden Monaten ist bezeichnend. Voller Zorn und leidenschaftlich entschlossen soll er geschworen haben: »Bei Gott, ich werde mich nicht mehr unter den Schutz irgendeines Daches begeben, bevor ich nicht mich und den Islam gerächt habe.« Man ist geneigt, das für pure Rhetorik zu halten, doch er ließ den Worten Taten folgen. Nur ad-Din ersetzte mit hohem Kostenaufwand aus seinem
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