Die Kreuzzüge
Raimund war Anfang 30, gerade erst aus neunjähriger muslimischer Gefangenschaft entlassen und deshalb eine noch unbekannte Größe in Outremer. Er war zierlich, dunkelhäutig, mit einem stechenden Blick, und seine steife Körperhaltung entsprach dem zurückhaltenden Auftreten. Von Natur aus vorsichtig, doch nicht minder ehrgeizig, machte ihn die Ehe mit einer der reichsten Erbinnen des Königreichs, Prinzessin Eschiva von Galiläa, zu einem der wichtigsten Vasallen Jerusalems. Als Regent verfolgte er in seinen Verhandlungen mit dem Hochgericht eine versöhnliche Linie und ging einer direkten Konfrontation mit Saladin aus dem Weg: Im Jahr 1175, als der Sultan nach Aleppo zog, wurde ein Stillhalteabkommen vereinbart.
Raimunds vorrangige Sorge in diesen Jahren war die Nachfolgefrage, denn kurz nach der Krönung Balduins verschlechterte sich dessen Gesundheitszustand dramatisch. Möglicherweise verschlimmerte die einsetzende Pubertät seinen Zustand; die Krankheit entwickelte sich zur schlimmsten Form der Lepra, der lepromatösen Lepra, und schon bald waren die Zeichen der Krankheit nicht mehr zu übersehen: Seine »Extremitäten und sein Gesicht waren besonders befallen, so dass seine treuen Gefolgsleute von Mitleid gepackt wurden, wenn sie ihn erblickten«. In späteren Jahren war er nicht einmal mehr in der Lage zu laufen oder zu sehen, sogar sein sprachliches Artikulationsvermögen ging verloren. Doch noch befand er sich auf dem leidvollen Abstieg in die körperliche Behinderung, immer wieder litt er unter schweren Krankheitsschüben, die ihn völlig handlungsunfähig machten. Die sozialen und religiösen Stigmata der Lepra waren immens. Die Krankheit galt als Strafe Gottes, als ein Zeichen dafür, dass der Betroffene bei Gott in Ungnade gefallen war; außerdem ging man von einer extrem hohen Ansteckungsgefahr aus, was dazu führte, dass Leprakranke aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. 11
Balduins Situation war äußerst heikel – als Monarch war er kritischen [330] Fragen ausgesetzt; als Herrscher war er unfähig, für Stabilität zu sorgen; und in dynastischer Hinsicht war es ihm nicht vergönnt, die königliche Erbfolge fortzusetzen, weil man zu seiner Zeit davon ausging, dass sexueller Kontakt zur Übertragung der Krankheit führte, aber wohl auch weil Balduin infolge seiner Krankheit unfruchtbar war.
So ruhten die Hoffnungen für die Zukunft auf Balduins Schwester Sibylla. Die Jahre ihrer Kindheit und Jugend in einem beschützten klösterlichen Umfeld ließen erwarten, dass sie kaum in die Fußstapfen ihrer Großmuter Melisende treten und selbst nach der königlichen Macht streben würde. Raimund begann also, intensiv nach einem passenden Ehemann für Sibylla zu suchen. Der Kandidat, der dann schließlich ausersehen wurde, war Wilhelm von Montferrat, ein Fürstensohn aus Norditalien, dessen Vettern zwei der mächtigsten Monarchen Europas waren: König Ludwig VII. von Frankreich und der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa (Neffe Konrads III., der am zweiten Kreuzzug teilgenommen hatte). Sibylla und Wilhelm von Montferrat wurden Ende des Jahres 1176 vermählt, im Juni 1177 wurde Wilhelm jedoch krank und starb, und Sibylla blieb als schwangere Witwe zurück. Im Dezember 1177 oder im Januar 1178 wurde dann Balduin V. geboren, er war nun der potentielle Erbe des Thrones von Jerusalem.
Mitte der 1170er-Jahre verhalf Raimund von Tripolis Wilhelm von Tyrus zu einem großen Schritt auf der Karriereleiter: Er wurde Kanzler des Königs und später Erzbischof von Tyros, was die weitgehend wohlwollende Darstellung Raimunds in Wilhelms Chronik immerhin teilweise zu erklären vermag. Von dieser privilegierten Position im Zentrum der politischen und kirchlichen Hierarchie des lateinischen Königreichs aus beobachtete und beschrieb Wilhelm die Geschichte von Outremer.
Die ersten Regierungsjahre Balduins IV.
Im Sommer des Jahres 1176 wurde Balduin IV. volljährig, was die Regentschaft Raimunds beendete. Der junge Monarch stürzte sich trotz seines sich verschlechternden Gesundheitszustands in die Regierungsgeschäfte und ließ von Anfang an deutlich seine Richtung erkennen. Raimunds Politik diplomatischer Annäherung verwarf Balduin, er weigerte sich, den Friedensvertrag mit Damaskus zu erneuern, und im August führte er eine Überfalltruppe in das Biqa-Tal im Libanon, wo er Turan-Shah in [331] einem kleineren Gefecht besiegte. Dieser Umschwung im politischen Verhältnis zum Islam brachte es mit sich, dass der
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