Die Kreuzzüge
aufzubauen. Einige Materialien für den Schiffsbau sowie Seeleute holte man aus Libyen; Saladin jedoch hielt Ausschau nach dem besten Bauholz, woraus sich binnen kurzem Handelsbeziehungen mit Pisa und Genua ergaben. Dies war nur ein Beispiel für den zunehmenden Fernhandel mit militärischer Ausrüstung, technischen Neuerungen und sogar Waffen zwischen dem ajjubidischen Islam und dem Westen, der auch dann ungehindert beibehalten wurde, als sich die Spannungen im heiligen Krieg verschärften. Der Einsatz des Sultans hatte durchschlagende strategische Folgen, denn innerhalb weniger Jahre verfügte er über eine See-streitmacht von 60 Galeeren und 20 Lastschiffen. Der islamische Vordere Orient, der seit langem in der Handels- und Kriegsschifffahrt im Mittelmeerraum keine Rolle mehr gespielt hatte, war nun wieder ein ernstzunehmender Konkurrent im Wettstreit um die Vormachtstellung geworden. 8
DER LEPRA-KÖNIG
Zu der Zeit, da Saladin seine Macht über Ägypten und Damaskus festigte, kam in Jerusalem ein neuer lateinischer König an die Macht. 1174 hatte König Amalrich die Belagerung von Banyas abgebrochen, weil er sich krank fühlte. Tatsächlich hatte er einen heftigen Anfall von Ruhr und verstarb im Juli des gleichen Jahres im Alter von nur 38 Jahren. Ihm folgte sein Sohn, Balduin IV., ein junger Monarch, dessen gesamte Regierungszeit von persönlicher Tragik und einer ständig sich ausweitenden [326] politischen Krise überschattet war. Schon als Balduin so plötzlich den Thron bestieg, war sein Status problematisch. Denn im Jahr 1163, bevor er zum König von Jerusalem gekrönt wurde, hatte Amalrich auf Betreiben des Hochgerichts der Scheidung von seiner Ehefrau Agnes von Courtenay, der Tochter von Graf Joscelin II. von Edessa, zugestimmt. Offiziell wurde die Aufhebung der Ehe mit dem Verwandtschaftsgrad der Eheleute begründet (Agnes war eine Kusine dritten Grades von Amalrich), doch tatsächlich hat wohl vor allem die Befürchtung eine Rolle gespielt, dass Agnes den Versuch unternehmen könnte, auf Kosten der amtierenden Adelsschicht die Interessen der nun nahezu landlosen Familie der Courtenay in Palästina zu vertreten. Aus der Ehe von Amalrich und Agnes waren zwei Kinder hervorgegangen, Balduin und seine ältere Schwester Sibylla; sie sollten, so wurde vereinbart, nach wie vor als rechtmäßige Erben gelten. Allerdings ging Amalrich bald darauf mit der byzantinischen Prinzessin Maria Komnena eine neue Ehe ein.
Kindheit und Jugend Balduins IV.
1163 war Balduin erst zwei Jahre alt gewesen, er wuchs also in einem schwierigen familiären Umfeld auf. Auch seine Mutter Agnes hatte sehr bald wieder geheiratet und spielte, da sie fast nie an den Hof kam, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Rolle bei der Erziehung ihres Sohnes. Ebenso wahrte die Stiefmutter Maria Distanz zu dem Knaben; die Interessen des eigenen Nachwuchses waren ihr wichtiger. Und die Schwester Sibylla war für den jungen Fürsten praktisch eine Fremde, weil sie hinter den hohen Mauern des Klosters ihrer Tante Yvetta in Bethanien erzogen wurde.
Einer der wichtigsten Gefährten seiner Kindheit sollte der Kleriker und Geschichtsschreiber Wilhelm von Tyrus werden. Um das Jahr 1170 wurde ihm die Erziehung des jungen Fürsten übertragen, seine Aufgabe war es, »den Charakter [des designierten Erben] zu bilden und zu erziehen und den Knaben lesen und schreiben zu lehren« und in einer Reihe von Wissenschaften zu unterrichten. Wilhelms Darstellung der Geschichte des lateinischen Ostens enthält eine ergreifende, intime Charakterskizze von Balduin aus der Zeit, als er noch ein Kind war. Der Prinz hatte äußerlich große Ähnlichkeit mit dem Vater, die bis in seine Art zu gehen und zu reden reichte; er wurde als »hübsches Kind« beschrieben, [327] mit schneller Auffassungsgabe, einem exzellenten Gedächtnis und großer Freude am Lernen und am Reiten. Wilhelm beschrieb jedoch auch mit herzzerreißender Offenheit jenen Augenblick, da eine schreckliche Wahrheit über Balduins körperliche Verfassung offenkundig wurde.
Eines Tages – der Knabe war neun Jahre alt und lebte bei seinem Lehrer Wilhelm – spielte Balduin mit einer Gruppe anderer adliger Jungen. Es ging um die Frage, wer in einer beliebten Variante des Kräftemessens der Stärkste war: »Sie zwickten sich gegenseitig mit den Fingernägeln in die Hände und Arme, wie Kinder es häufig zu tun pflegen«, um herauszufinden, wer als Erster vor Schmerzen in Tränen ausbrechen würde. Obwohl sie
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