Die Kreuzzüge
Papst wortreich eine gefühlsmächtige Mischung von Bildern und Ideen herauf, von der Schändung der Heiligen Stadt durch einen fremdländischen Feind bis zur Verheißung eines neuen Weges zur Erlösung. Auf seine Zuhörer hatte das offenbar eine elektrisierende Wirkung: »Die einen hatten Tränen in den Augen, andere zitterten.« Dass Adhémar, Bischof von Le Puy, als Erster vortrat, um sich der Sache anzuschließen, war wohl vorher abgesprochen. Am nächsten Tag wurde der Bischof zum päpstlichen Legaten ernannt, dem offiziellen Vertreter des Papstes für die bevorstehende Unternehmung. Als ihr geistlicher Führer sollte er die Pläne des Papstes vertreten, wozu nicht zuletzt die Entspannungspolitik gegenüber der griechischen Kirche von Byzanz gehörte. Gleichzeitig trafen Boten von Raimund von Toulouse mit der Nachricht ein, dass auch der Graf das Unternehmen unterstützen werde. Urbans Predigt war ein überwältigender Erfolg. In den anschließenden sieben Monaten konnte er durch eine verlängerte Predigtreise, mit der er seine Botschaft in ganz Frankreich verbreitete, diesen Erfolg noch steigern. 5
Auch wenn Clermont als Ursprungsort des ersten Kreuzzugs gelten kann, wäre es falsch, in Urban II. den einzigen Architekten der »Kreuzzugsidee« zu sehen. Immer wieder haben Historiker zu Recht darauf hingewiesen, dass Urban seinen Vorgängern vieles verdankte, nicht zuletzt dem bahnbrechenden Entwurf einer Theorie des heiligen Krieges durch Papst Gregor VII. Genauso wichtig ist aber, dass die Idee des ersten [52] Kreuzzugs – sein Wesen, seine Absichten und sein Ertrag – im Verlauf des Kreuzzugs selbst sich ständig, überwiegend organisch weiterentwickelte. Dieser Prozess setzte sich sogar danach noch fort, als die Welt diese epochale Begebenheit zu deuten und zu verstehen suchte. Es ist viel zu leicht, sich den ersten Kreuzzug als ein einziges, wohlgeordnetes Heer vorzustellen, das sich, durch Urbans leidenschaftliche Predigt in Bewegung gesetzt, auf Jerusalem zubewegte. In Wahrheit gab es in den Monaten und Jahren, die auf den November 1095 folgten, mehrere unzusammenhängende Aufbruchswellen. Selbst die Gruppierungen, die wir gern als die »Haupttruppen« des Kreuzzugs bezeichnen, traten die erste Etappe ihrer Reise nicht als eine geschlossene Streitmacht an, sondern als ein zusammengewürfelter Haufen kleinerer Kontingente, die ihren Weg zu den gemeinsamen Zielen und Befehlsstrukturen mehr ahnten als genau kannten.
Innerhalb eines Monats nach der ersten Predigt des Papstes hatten populistische (oft von der kirchlichen Autorität nicht anerkannte) Prediger begonnen, den Aufruf zum Kreuzzug in ganz Europa zu verbreiten. Durch ihre Demagogenworte scheinen einige Subtilitäten bezüglich der geistigen Früchte, die das Unternehmen mit sich bringen sollte und die später als Kreuzzugsablass bezeichnet wurden, verwischt worden zu sein. Urban hatte wahrscheinlich beabsichtigt, die in Aussicht gestellte Vergebung sollte sich nur auf die zeitliche Strafe für gebeichtete Sünden beziehen; eine ziemlich komplexe Formel, die den Finessen des Kirchenrechts Rechnung trug. Spätere Ereignisse lassen jedoch vermuten, dass viele Kreuzfahrer glaubten, ihnen sei das himmlische Heil zugesichert worden und jeder, der während des Feldzugs starb, würde dadurch automatisch zum heiligen Märtyrer. Solche Vorstellungen prägten das Denken über die Kreuzzugserfahrungen noch jahrhundertelang und öffneten eine prekäre Kluft zwischen der offiziellen Lehre und dem volkstümlichen Verständnis jener heiligen Kriege.
Festzuhalten ist, dass nicht Papst Urban II. den Begriff »Kreuzzug« prägte. Das Unternehmen, das er in Clermont anstieß, war so neuartig und in vielfacher Hinsicht mit seiner Konzeption noch in einem derart embryonalen Zustand, dass es kein Wort gab, mit dem man es angemessen hätte umschreiben können. Zeitgenossen bezeichneten diesen »Kreuzzug« schlicht als iter (Reise) oder peregrinatio (Pilgerfahrt). Erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts bildete sich eine spezifischere Terminologie [53] heraus: zum einen mit dem Wort crucesignatus (»mit dem Kreuz [auf der Kleidung] gekennzeichnet«) für einen »Kreuzfahrer«, zum andern schließlich mit der Verwendung des französischen Wortes croisade (das damals noch die Bedeutung »Kreuzweg«, Passionsweg hatte). Traditionell und um der Klarheit willen verwenden Historiker den Begriff »Kreuzzug« für die christlichen heiligen Kriege ab dem Jahr 1095, doch sollten wir
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