Die Kreuzzüge
Menschenopfer. »Über die fürchterlichen Schändungen von Frauen«, so der Papst nach einem Bericht, »wäre es schlimmer zu reden als zu schweigen«. Er scheint ausführlichen Gebrauch von solch aufwieglerischer Rhetorik gemacht zu haben, die Assoziationen hervorrief, die man heutzutage als Kriegsverbrechen und Völkermord bezeichnet. Seine Anschuldigungen hatten nichts oder fast nichts mit der Realität der muslimischen Herrschaft im Vorderen Orient zu tun, doch kann von heute aus nicht mehr beurteilt werden, ob der Papst seiner Propaganda glaubte, oder ob er absichtsvolle Manipulation und Verzerrung betrieb. Wie auch immer: Seine drastische Dehumanisierung der muslimischen Welt diente der Sache der »Kreuzzüge« als starker Auslöser und stützte außerdem sein Argument, der Kampf gegen den »fremden« Anderen sei dem Krieg zwischen Christen innerhalb Europas vorzuziehen. 4
Die Entscheidung des Papstes, den Islam derart zu verteufeln, sollte in den kommenden Jahren finstere, bleibende Folgen nach sich ziehen. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Vorstellung eines Konflikts mit der muslimischen Welt in das eigentliche Wesen des Kreuzzugs nicht eingeschrieben war. Urbans Vision bestand in einem frommen Feldzug [50] mit dem höchsten Segen Roms, und er zielte zuerst und vor allem auf die Verteidigung oder Rückeroberung heiliger Territorien. In gewisser Weise war die Wahl des Islams als Feindbild fast willkürlich, und es gibt kaum Hinweise darauf, dass die Lateiner oder ihre griechischen Verbündeten die muslimische Welt vor dem Jahr 1095 als ihren erklärten Feind ansahen. *
Allein schon die Vorstellung, Rache für die »abscheulichen Frevel« der dämonisierten Muslime zu nehmen, beschleunigte den Puls der Zuhörer in Clermont und zog sie in ihren Bann, aber die »Kreuzzugsbotschaft« des Papstes enthielt einen weiteren, noch verlockenderen Köder: ein Versprechen, das den Kern der Existenz jedes Christen im Mittelalter traf. Das Religionsverständnis, auf dem dieser Köder beruhte, betonte damals besonders die überwältigende Bedrohung durch Sünde und Verdammnis, was zur Folge hatte, dass die abendländischen Christen in einen lebenslangen verzweifelten geistlichen Kampf verstrickt waren, ihre Seele vom Makel der Sünde reinzuwaschen. Die Kirche hatte ihnen eingeschärft, nach Erlösung zu suchen, und sie waren daher hellauf begeistert, als der Papst erklärte, dieser Feldzug in den Osten sei ein heiliges Unternehmen, und jeder, der daran teilnehme, erlange »Vergebung all seiner Sünden«. In der Vergangenheit galten selbst die »gerechten Kriege« (also die Akte von Gewalt, die von Gott als notwendig angesehen wurden) als in sich sündhaft. Jetzt aber stellte der Papst einen Konflikt dar, der über diese traditionellen Grenzen hinausging. Seine Sache sollte sakrale Dimensionen haben – ein heiliger Krieg, der von »Gott« nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich begünstigt und gutgeheißen war. Im Bericht eines Augenzeugen wird sogar erwähnt, der Papst habe beteuert, dass »Christus« den Gläubigen »befohlen« habe, sich diesem Vorhaben anzuschließen.
Urbans Genie bestand darin, seinen Kreuzzugsentwurf in den Rahmen der herrschenden religiösen Praxis einzufügen. Damit garantierte er, dass zumindest unter den Voraussetzungen des 11. Jahrhunderts seine Taktik der Verknüpfung von Kriegsführung und Seelenheil einen klaren, vernünftigen Sinn ergab. Im Jahr 1095 war es für die lateinischen Christen [51] selbstverständlich, dass die Bestrafung, die eine Sünde nach sich zog, durch die Beichte sowie durch anschließende Bußakte wie Gebet, Fasten oder Pilgern abgewendet werden konnte. In Clermont verband Urban die vertraute Vorstellung einer Erlösung verheißenden Pilgerreise mit dem kühneren Konzept eines Kampfes für Gott, und er forderte »jeden ungeachtet seines Standes, Ritter oder Fußsoldat, ob reich oder arm« dazu auf, sich dem anzuschließen, was im Grunde genommen ein bewaffneter Pilgerzug werden sollte. Diese unglaublich strapaziöse Unternehmung, die nur so strotzte von Gefahren und der Aussicht auf schreckliche Leiden, sollte jeden, der sich ihr anschloss, bis zu den Toren Jerusalems bringen, dem wichtigsten Pilgerziel der Christenheit. Und dieses Ziel versprach eine Erfahrung, die getränkt war mit überwältigender erlösender Wirkkraft, eine »Super«-Buße, die den Geist von jeglicher Übertretung zu reinigen vermochte.
Um seinen Ruf zu den Waffen zu stützen, beschwor der
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