Die Kreuzzüge
uns darüber im Klaren sein, dass er für die frühen Unternehmen den etwas irreführenden Eindruck von Zusammenhalt und Einheitlichkeit vermittelt. 6
Der Ruf des Kreuzes
In den Monaten nach dem Konzil zu Clermont verbreitete sich die Kreuzzugsbotschaft in ganz Europa und löste eine beispiellose Reaktion aus. Während Papst Urban seine Botschaft überall in Frankreich verkündete, trugen Bischöfe aus der gesamten lateinischen Welt, die seine Predigt miterlebt hatten, den Aufruf in ihre heimischen Diözesen.
Auch beim Volk beliebte Hetzprediger nahmen sich der Sache an; von der Kirche wurden sie weder bestätigt, noch wurde ihnen Einhalt geboten. Der berühmteste und bemerkenswerteste dieser Prediger war Peter der Einsiedler (Petrus Eremita, Peter von Amiens). Er stammte wahrscheinlich aus einer armen Familie in Amiens im Nordosten Frankreichs und war berühmt für sein asketisches Wanderleben, für sein abstoßendes Äußeres und seine ungewöhnlichen Essgewohnheiten – ein Zeitgenosse vermerkte, dass »er nur von Wein und Fisch lebte; Brot aß er nie oder fast nie«. Nach modernen Maßstäben würde man ihn wohl als Vagabunden bezeichnen, doch unter den ärmeren Schichten Frankreichs wurde er im 11. Jahrhundert als Prophet verehrt. So groß war die ihm nachgesagte Heiligkeit, dass seine Anhänger sogar die Haare seines Maultiers als Reliquien sammelten. Ein griechischer Zeitgenosse schrieb: »Als hätte er eine göttliche Stimme in allen Herzen ertönen lassen, so begeisterte Peter der Einsiedler die Franken aus allen Teilen des Landes, sich mit ihren Waffen, Pferden und ihrer sonstigen militärischen Ausrüstung zu versammeln.« Er muss ein wahrhaft begnadeter Redner gewesen sein – innerhalb von sechs Monaten nach der Predigt von Clermont hatte er ein Heer von über 15 000 Menschen, überwiegend armes Gesindel, um sich versammelt. In die Geschichte ging diese Streitmacht neben einigen anderen Gruppen aus Deutschland als »Volkskreuzzug« [54] ein. Von heiligem Kreuzzugseifer erfüllt, setzten sich die einzelnen Haufen im Frühjahr 1096, Monate vor jedem anderen Heer, in Richtung Heiliges Land in Bewegung und rückten in undisziplinierten Märschen in Richtung Konstantinopel vor. Unterwegs beschlossen einige dieser »Kreuzfahrer«, dass man die »Feinde Christi« auch schon in größerer Nähe zur Heimat bekämpfen könne, und begingen entsetzliche Massaker unter den Juden im Rheinland. Fast unmittelbar nachdem der Volkskreuzzug muslimisches Gebiet betreten hatte, wurde er aufgerieben, aber Peter der Einsiedler überlebte. 7
Diese erste Welle des Kreuzzugs endete in einem Misserfolg, doch sammelten sich daheim im Westen schon größere Heere. Öffentliche Kundgebungen, bei denen die Menschenmassen mit gefühlsgeladener Rhetorik bombardiert wurden, lösten fieberhafte Anwerbungswellen aus, und die Kreuzzugsbegeisterung wurde offenbar auch über Verwandtschaftsbeziehungen, in den Netzwerken der Anhänger des Papstes und mittels der Beziehungen zwischen geistlichen Orden und dem Adel weitergegeben. Nach wie vor herrscht unter Historikern keine Einigkeit über die Zahl der Menschen, die mitzogen, vor allem wegen der unzuverlässigen und oft stark übertriebenen zeitgenössischen Schätzungen (einige davon geben mehr als eine halbe Million an). Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass zwischen 60 000 und 100 000 lateinische Christen zum ersten Kreuzzug aufbrachen, von denen zwischen 7000 und 10 000 beritten waren, zwischen 35 000 und 50 000 Infanteristen und die verbleibenden vielen zehntausend Nicht-Kombattanten: Frauen und Kinder. Fest steht nur, dass der Aufruf zum Kreuzzug eine außerordentliche Reaktion hervorrief, deren Ausmaß die mittelalterliche Welt in Erstaunen versetzte. Seit der fernen Glanzzeit Roms war kein derart großes Heer mehr aufgestellt worden. 8
Den Kern dieser Heere bildeten adlige Ritter, die aufsteigende kriegerische Elite des Mittelalters. * Papst Urban II. kannte nur zu gut die [55] Angst dieser christlichen Krieger, die mit einem weltlichen Beruf geschlagen waren, der sie ständig zu Gewalttaten zwang, und gleichzeitig von der Kirche belehrt wurden, dass Krieg eine Sünde sei und in die sichere Verdammnis führe. Ein Zeitgenosse bemerkte dazu:
Gott hat in unserer Zeit heilige Kriege eingesetzt, damit der Stand der Ritter und ihr Gefolge [. . .] einen neuen Weg zum Heil finden mögen. Sie sind nun nicht mehr gezwungen, die weltlichen Dinge ganz aufzugeben, indem sie sich für das
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