Die Kreuzzüge
den dritten Kreuzzug einschrieb, ließ eine massive Störung der empfindlichen Macht- und Einflussbalance in England und Frankreich befürchten. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wolle Richard mit der Aussicht auf wenig Gewinn praktisch alles aufs Spiel setzen.
Wie ist diese höchst ungewöhnliche Entscheidung zu erklären? Die Wissenschaft hat im Rückblick gemeint, dass das ganze Abendland ohnehin bald danach vom Kreuzzugsfieber erfasst werden sollte; Heinrich II. und Philipp August selbst würden nur wenige Monate später das Kreuz nehmen, und Richards Entscheidung wurde einfach in dieser umfassenden Bewegung als normal und unumgänglich subsumiert. Versteht man sie jedoch in ihrem Kontext und von ihren Voraussetzungen her, dann war sie alles andere als selbstverständlich.
Möglicherweise spielte ein ganzes Bündel von Motiven eine Rolle. Ein wichtiger Faktor war sicher Richards Impulsivität. Wenn er irgendeine [410] Schwäche hatte, dann war es ein deutlicher Hang zu allzu selbstsicherer, rücksichtsloser Arroganz. Sogar ein Anhänger gab zu, dass »man ihm unüberlegtes Handeln vorwerfen konnte«, doch erklärte er zugleich, dass er »einen unbezwinglichen Geist hatte, er konnte Beleidigungen oder Unrecht nicht ertragen, und sein vornehmer Charakter zwang ihn, sich das Recht zu verschaffen, das ihm zustand«. Möglicherweise kam noch, wie bei so vielen Kreuzfahrern vor Richard, ein aufrichtig empfundener religiöser Impuls hinzu. Solche Gefühle wurden sicherlich noch durch seine familiären und feudalen Verbindungen mit dem fränkischen Palästina verstärkt: Er war der Urenkel Fulks von Anjou, des Königs von Jerusalem (1131 – 1142); ein Vetter der Königin Sibylla sowie ehemaliger Feudalherr Guidos von Lusignan aus dem Poitou. Außerdem war er bemüht, sich aus dem Schatten seiner Eltern herauszukämpfen. Einen Großteil seines bisherigen Lebens hatte er damit zugebracht, den Leistungen seines Vaters (und in gewisser Hinsicht auch seiner Mutter) nachzueifern und sie nach Möglichkeit zu übertreffen. Vor dem Jahr 1187 verfolgte er dieses Ziel, indem er Aquitanien verteidigte und sich die angevinische Herrschaft sicherte. Die Ereignisse von Hattin aber und der Aufruf zum dritten Kreuzzug eröffneten einen ganz anderen Weg zu persönlicher Größe – eine neue Möglichkeit, der Geschichte seinen Stempel aufzuprägen, als Anführer von Kämpfern, als militärischer Befehlshaber in einem heiligen Krieg weit jenseits der Grenzen Europa. Der Kreuzzug mag auch ihn, den begeisterten Krieger, gereizt haben, der in eine Welt hineingeboren wurde, in der sich gerade die neuen Vorstellungen von den Tugenden des Rittertums und höfischer Ehre herauszukristallisieren begannen. Der bevorstehende Kreuzzug versprach ein vortreffliches Forum zur Bewährung von Tapferkeit und Heldenmut zu bieten. 10
Es ist nicht möglich, das jeweilige Gewicht dieser einzelnen Faktoren und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Sehr wahrscheinlich hätte nicht einmal Richard selbst ein einziges Motiv oder Ziel auszumachen vermocht, das sein Handeln Ende 1187 bestimmte. Zweifellos neigte er in den folgenden Jahren zu heftigen Zornausbrüchen. Auch eine tief sitzende Identitätskrise und damit verbunden eine gewisse Unsicherheit bezüglich seiner Ziele machte sich immer wieder bemerkbar – gewiss war es für ihn nicht einfach, seine verschiedenen Rollen als Kreuzfahrer, König, Feldherr und Ritter miteinander zu versöhnen.
[411] DIE KÖNIGE NEHMEN DAS KREUZ
Der Schock, den Richards Entscheidung ausgelöst hatte, sich dem dritten Kreuzzug anzuschließen, führte zu einer politischen Krise: Philipp II. August von Frankreich drohte, in angevinisches Territorium einzumarschieren, wenn Heinrich II. keine territorialen Zugeständnisse machte; außerdem sollte Heinrich seinen Sohn zwingen, endlich Philipp Augusts Schwester, Alice von Frankreich, zu heiraten. Am 21. Januar 1188 kamen Philipp August und Heinrich II. in Begleitung ihrer wichtigsten Gefolgsleute bei der Grenzfestung Gisors zusammen, um eine Einigung auszuhandeln. Allerdings war auch Erzbischof Joscius von Tyros bei der Versammlung zugegen. Er hielt wie gewohnt eine mitreißende Predigt über die äußerste Gefährdung des Heiligen Landes und die Verdienste des Kreuzzugs, und er sprach »so wunderbar, dass er ihre Herzen dafür gewann, das Kreuz zu nehmen«. In diesem Moment soll am Himmel ein Kreuz erschienen sein – ein »Wunder«, nach dem dann auch noch viele weitere
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