Die Kreuzzüge
zehntausend Christen ließen sich durch den Ruf zu den Waffen unter dem Kreuz anwerben. Ein Kreuzfahrer bemerkt, dass »der Enthusiasmus für die neue Pilgerfahrt so groß« war, »dass es bereits [im Jahr 1188] nicht die Frage war, wer das Kreuz empfangen hatte, sondern [404] wer noch nicht«. Nun war das zwar eine gewisse Übertreibung, weil die Zahl der Menschen, die daheim blieben, immer noch größer war als die Zahl derer, die ins Heilige Land aufbrachen; dennoch setzte dieser Feldzug in der europäischen Gesellschaft eine gewaltige Migration in Gang. Vor allem in Frankreich führten große Teile der Aristokratie bewaffnete Truppen in den Krieg. Wieder erwies sich die Beteiligung der Könige, ebenso wie in den 1140er-Jahren, als problematisch; sie löste im lateinischen Westen aufgrund der Vasallen- und Gefolgschaftsbindungen eine regelrechte Kettenreaktion an Anwerbungen aus. Der Kreuzfahrer Gauclem Faidit beschreibt dieses Phänomen um 1189 herum in einem Lied: »Jeder sollte erwägen, dorthin mitzuziehen, vor allem die Fürsten, da sie einen so hohen Rang haben, denn es gibt keinen, der von sich sagen kann, er sei ihnen treu und ergeben, wenn er [seinem Herrn] bei diesem Unternehmen nicht beisteht.« 7
Doch noch bevor die unheilvollen Neuigkeiten von Saladins Siegen die Runde machten, noch bevor das gesamte Abendland von fiebrigem Enthusiasmus ergriffen wurde, schloss sich ein politischer Führer der Sache unverzüglich an. Im November 1187 nahm Richard Cœur de Lion (Löwenherz), der erste Adlige nördlich der Alpen, in Tours das Kreuz.
CŒUR DE LION
Heute gehört Richard Löwenherz zu den bekanntesten Gestalten des Mittelalters. In der Erinnerung lebt er als Englands großer Krieger-König weiter. Wer aber war Richard? Eine viel diskutierte Frage – wurde er doch schon zu seinen Lebzeiten zur Legende. Richard wusste sicher ganz genau, wie viel Macht mit großem Kriegsruhm verbunden ist, und er war selbst am Kult um seine Person beteiligt, indem er Vergleiche mit den großen mythischen Gestalten der Vergangenheit wie etwa Roland, der Geißel der iberischen Mauren, und König Artus lancierte. Er brach sogar mit einem Schwert namens Excalibur zum Kreuzzug auf; später verkaufte er es allerdings, um noch weitere Schiffe bezahlen zu können. In der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden von seinen Heldentaten zahlreiche Geschichten erzählt. Ein Dichter versuchte, den berühmten Beinamen Richards damit zu erklären, dass dieser einmal ohne Waffen gegen einen Löwen gekämpft habe. Er habe dem Ungetüm in den [405] Rachen gegriffen und ihm das noch schlagende Herz herausgerissen; und angeblich habe er das bluttriefende Organ dann mit Genuss verspeist.
Ein Augenzeuge und glühender Verehrer lieferte folgende mitreißende Schilderung seiner äußeren Erscheinung:
Er war groß, gut gebaut; die Farbe seiner Haare ein Ton zwischen Rot und Gold; seine Gliedmaßen geschmeidig und gerade. Er hatte ziemlich lange Arme, die ihn gut dazu befähigten, ein Schwert zu ziehen und es höchst wirkungsvoll zu schwingen. Seine langen Beine passten gut zur Gestalt seines gesamten Körpers.
Im selben Text heißt es, Richard sei von Gott »mit Gaben« gesegnet worden, »die eher zu einem früheren Zeitalter zu gehören scheinen. In unserer Zeit, da die Welt alt wird, gibt es kaum mehr jemanden mit solchen Tugenden, es ist, als wären die Menschen nur noch leere Hüllen.« Im Vergleich dazu
[. . .] hatte Richard die Tapferkeit von Hektor, den Heldenmut von Achill; er war Alexander ebenbürtig [. . .]. Und er hatte, was für einen so berühmten Ritter ungewöhnlich ist, die Zunge eines Nestor und die Weisheit eines Odysseus; so konnte er in allem, was er tat, die anderen übertreffen, sei es nun im Reden oder im Handeln. 8
Es kann nicht überraschen, dass die gelehrte Welt dieses umwerfende Bild von Richard Löwenherz als einem geradezu übermenschlichen Helden nicht immer unwidersprochen hingenommen hat. Schon im 18. Jahrhundert kritisierten englische Historiker Richard I. als König wie als Mensch – nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht, habe er England ausgebeutet und sei außerdem grausam und unberechenbar gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten hat der brillante Londoner Gelehrte John Gillingham diese Auffassung und diese Interpretation von Richards Werdegang zurechtgerückt. Gillingham streitet nicht ab, dass Richard von den zehn Jahren seiner Herrschaft höchstens eines in England verbrachte, doch er stellt dies in den
Weitere Kostenlose Bücher