Die Kreuzzüge
größeren Zusammenhang, dass Richard nicht nur König von England war, sondern auch, in einer kritischen Phase für [406] die gesamte Christenheit, Herrscher über das angevinische Reich. Auch Starrköpfigkeit wird ihm bescheinigt, allerdings verwirft Gillingham das Bild eines wilden, jähzornigen Rohlings. Mittlerweile gilt Richard allgemein als Herrscher, der eine gute Erziehung genossen hatte, als erfahrener Politiker und gewandt in Verhandlungen, und vor allem als Mann der Tat, begeisterter Krieger und als militärischer Befehlshaber begabt mit einem visionären Gespür. Obwohl diese Neubewertung noch immer in großen Teilen zutrifft, hat Gillingham doch, um den Ruf seines Helden aufzupolieren, einige Leistungen Richards während des dritten Kreuzzugs in allzu günstigem Licht gesehen und sich stellenweise mit Kritik etwas zu sehr zurückgehalten, wo sie angebracht wäre. 9
Graf von Poitou und Herzog von Aquitanien
Obwohl Richard Löwenherz einmal König von England werden sollte, war er weder durch seine Geburt noch hinsichtlich der Umgebung, in der er aufwuchs, ein Engländer. Seine Muttersprache war Französisch, und er war der Erbe von Anjou und Aquitanien. Er wurde am 8. September 1157 als Sohn Heinrichs II. von England und Eleonores von Aquitanien geboren. Mit solchen Eltern war der junge Prinz geradezu prädestiniert, zur markanten historischen Gestalt heranzuwachsen; allerdings sah es nicht so aus, als würde er das gesamte angevinische Reich erben. Diese glanzvolle Karriere war seinem älteren Bruder bestimmt, der als Heinrich der Jüngere in die Geschichte einging. Zunächst eröffnete sich für Richard lediglich die Rolle des Statthalters, nicht des Befehlshabers. Im 12. Jahrhundert war die Sterblichkeit bei Kindern und Jugendlichen allerdings so hoch, dass sich diese Perspektiven jederzeit ändern konnten.
In seinen Jugendjahren hielt Richard sich ausschließlich in Aquitanien auf. Man erwartete nicht, dass er den Thron von England besteigen würde; und wahrscheinlich ist es dem Einfluss seiner Mutter zu verdanken, dass er zum Herrscher über dieses ausgedehnte Herzogtum in Südwestfrankreich ausersehen wurde. Im Jahr 1169 leistete Richard dem Kapetinger Ludwig VII. den Lehnseid für Aquitanien und wurde dann im Jahr 1172, im Alter von 15 Jahren, offiziell als Herzog von Aquitanien (und in Verbindung damit zum Grafen von Poitou) eingesetzt. Richards Einbindung in das komplexe Beziehungsnetz zwischen dem Haus Anjou [407] und den Kapetingern ging noch weiter: Er wurde im Jahr 1169 mit Ludwigs Tochter Alice verlobt – allerdings lebte die französische Prinzessin von da an am Hof Heinrichs II. und nicht bei Richard; es wurde gemunkelt, dass sie Heinrichs Geliebte war.
Aquitanien war eine der wohlhabendsten und kultiviertesten Regionen Frankreichs, ein lebendiges Zentrum der Musik, Dichtung und Malerei, was Richard durchaus nicht unbeeinflusst ließ. Er war ein großzügiger Gönner der Troubadoure und auch selbst ein begeisterter Sänger; er komponierte Lieder und schrieb Verse. In der lateinischen Sprache bewegte er sich gewandt und verfügte über einen freundlichen, manchmal bissigen Humor. Sein Herzogtum blickte auf eine ruhmreiche Geschichte in den legendären heiligen Kriegen gegen den Islam zurück, die zur Zeit Karls des Großen in Spanien ausgetragen wurden. Mehrere Kirchen in Aquitanien nahmen für sich in Anspruch, den Leichnam Rolands, des strahlenden Helden jener Schlachten, in ihren Mauern zu hüten sowie sein Horn, das er in der Schlacht blies, um das fränkische Heer gegen die Mauren zu Hilfe zu holen.
Bei allem kulturellen Glanz war Aquitanien jedoch auch eine Brutstätte der Gesetzlosigkeit und der Zwietracht – eigentlich nicht mehr als eine nur lose zusammenhängende Ansammlung von verbissen auf ihre Unabhängigkeit bedachten Regionen, bevölkert von mächtigen, widerspenstigen Familien wie den Lusignan. Unter diesen Voraussetzungen sah es so aus, als stünde dem jungen Richard die Herrschaft über ein Gemeinwesen bevor, das geradezu unregierbar war; er jedoch erwies sich als erstaunlich kompetenter Herrscher. In den 1170er- und 1180er-Jahren gelang es ihm nicht nur, die Ordnung aufrechtzuerhalten und zahlreiche Aufstände zu unterdrücken, er schaffte es außerdem, zum Nachteil der Grafschaft Toulouse sein herzogliches Territorium auszudehnen. Im Rahmen dieser Herausforderungen eignete Richard sich wertvolle militärische Erfahrung an, vor allem auf dem Gebiet der
Weitere Kostenlose Bücher