Die Kreuzzüge
diesen Enthusiasmus teilte. Zu Beginn des neuen Jahres 1192 stand er vor einer schweren Entscheidung. Der Kreuzzug hatte fast zwei Monate gebraucht, um gerade einmal 40 Kilometer näher an Jerusalem heranzukommen. Die Nachschublinie [525] zur Küste existierte noch, doch sie war fast täglich Ziel von muslimischen Anschlägen. Die Stadt unter diesen Umständen zu belagern, mitten im bitterkalten Winter, wäre ein gigantisches Unternehmen und äußerst riskant gewesen. Dennoch nahm der Großteil des lateinischen Heeres ganz selbstverständlich an, dass der Angriff unmittelbar bevorstand.
Um den 10. Januar herum berief der König eine Ratsversammlung ein, um das weitere Vorgehen zu überdenken. Das schockierende Ergebnis dieser Beratung: Der dritte Kreuzzug sollte Beit Nuba verlassen und Jerusalem den Rücken kehren. Offiziell hieß es, eine mächtige Lobby aus Templern, Johannitern und ortskundigen lateinischen Baronen aus der Levante habe Richard dazu überredet. Die Gefahren einer Belagerung, solange Saladin noch über ein stehendes Heer außerhalb Jerusalems verfüge, seien zu groß; außerdem seien die Franken nicht zahlreich genug, um die Heilige Stadt zu halten, wenn es ihnen denn wider Erwarten doch gelingen sollte, sie einzunehmen. »[Diese] klügeren Männer waren der Meinung, dass man sich auf den unbesonnenen Wunsch des gemeinen Volkes, [Jerusalem zu belagern], nicht einlassen solle«, erinnert sich ein Zeitgenosse; sie rieten stattdessen, dass der Feldzug »umkehren und Askalon befestigen solle«, um Saladins Nachschublinie zwischen Palästina und Ägypten zu durchtrennen. Tatsächlich wird der König in den Kreis seiner Berater wohl nur die Personen berufen haben, die seine eigene Auffassung vertraten; von vornherein wusste er nur zu gut, wie der Rat ausfallen würde. Vorerst war Richard nicht gewillt, das Schicksal des gesamten heiligen Krieges vom Ergebnis einer derart tollkühnen Unternehmung abhängig zu machen. Am 13. Januar ordnete er den Rückzug von Beit Nuba an.
All das erschütterte die Kreuzfahrer zutiefst, aber in der neueren Forschung hat man Richards Entscheidung in günstigerem Licht gesehen. John Gillingham etwa und andere, die ihn als scharfsinnigen Strategen beschreiben, dessen Entschlüsse auf dem nüchternen Denken des Kriegers und nicht auf frommen Phantasien fußten, lobten ihn für seine Vorsicht. So kam etwa Hans Mayer zu dem Schluss, dass »angesichts der Taktik Saladins Richards Entscheidung richtig war«. 9
Die Wahrheit lässt sich kaum rekonstruieren. Ein Augenzeuge unter den Kreuzfahrern stellte später fest, dass sich die Franken eine äußerst günstige Gelegenheit entgehen ließen, Jerusalem einzunehmen, weil sie [526] das Ausmaß »der Erschöpfung, des Leidens und der Schwäche« der muslimischen Truppen nicht kannten, die sich in der Stadt aufhielten, und diese Beobachtung war gar nicht so falsch. Saladin brauchte die Truppen außerhalb der Stadt und war daher gezwungen, nach dem 12. Dezember den Großteil seines Heeres zu entlassen, was dazu führte, dass die Heilige Stadt gefährlich unterbesetzt war. Es vergingen zehn Tage, bis Abu’l Haija der Dicke mit Verstärkungstruppen aus Ägypten eintraf. Inzwischen hätte ein konzentrierter Angriff auf Jerusalem womöglich den Willen Saladins gebrochen, seine bereits nachlassende Kontrolle über die muslimische Allianz wäre noch mehr ins Wanken geraten und hätte den Islam im Vorderen Orient noch tiefer gespalten. Alles in allem aber tat Richard wohl gut daran, sich auf ein derart hohes Risiko nicht einzulassen.
Trotzdem ist an seinem Verhalten während dieser Phase des Kreuzzugs Kritik angebracht. Bis heute übersehen Historiker einen ganz wichtigen Aspekt seiner Entscheidung. Wenn es im Januar 1192 für seine Militärberater und wahrscheinlich auch für ihn selbst so offensichtlich war, dass die Heilige Stadt weder erobert noch im Fall eines Sieges gehalten werden konnte – warum hatte man dann nicht schon Monate zuvor entsprechend gehandelt, noch bevor der Kreuzzug überhaupt von Jaffa aufbrach? Der König – angeblich ein Meister der Kriegskunst – muss schon im Oktober 1191 erkannt haben, dass Jerusalem ein fast unmögliches militärisches Ziel war, zudem eines, das keinesfalls gehalten werden konnte. Ibn al-Athir, der im frühen 13. Jahrhundert schrieb, versuchte, Richards Überlegungen in Beit Nuba zu rekonstruieren. Er stellte sich eine Szene vor, in der Richard sich eine Landkarte der Heiligen Stadt bringen
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