Die Kreuzzüge
lässt; nachdem er ihre topographische Lage studiert hatte, soll er zu dem Schluss gekommen sein, dass Jerusalem nicht eingenommen werden konnte, solange Saladin noch ein Heer außerhalb der Stadt stehen hatte. Dabei handelt es sich allerdings um wenig mehr als eine Veranschaulichung im Nachhinein. Es hätte wohl gänzlich Richards Veranlagung sowie seiner Erfahrung widersprochen, wenn er sich nicht schon vor seinem Aufbruch von Jaffa einen möglichst umfassenden Eindruck von den strategischen Gegebenheiten verschafft hätte.
Als er Ende Oktober 1191 nach Jerusalem aufbrach, hatte er wohl nicht einmal ansatzweise die Absicht, die Stadt wirklich anzugreifen. Das heißt, dass sein Vormarsch eigentlich eine Finte war – das militärische [527] Element in einem kombinierten Angriff, in dem die Demonstration kämpferischer Aggression den intensiven diplomatischen Kontakt ergänzte und vertiefte. Ihm kam es in diesem Herbst und Winter darauf an, Saladins Entschlusskraft und seine Ressourcen auf die Probe zu stellen, und er blieb stets bereit, sich von der Front zurückzuziehen, wenn sich keine eindeutige Siegeschance abzeichnete. Damit blieb er den bewährten Richtlinien mittelalterlicher Heeresführung treu. Was er allerdings vollständig verkannte, waren die Besonderheiten eines Kreuzzugs.
Der Rückzug wirkte sich auf die Verfassung der Christen wie auf die Erfolgsaussichten des Kreuzzugs katastrophal aus. Sogar Ambroise, engagierter Anhänger Richards, musste zugeben:
Als es sich herumgesprochen hatte, dass das Heer umkehrte (wir wollen nicht von Rückzug sprechen), waren die Männer, die mit so viel Begeisterung vorgerückt waren, derart entmutigt, dass es, seit Gott die Zeit erschaffen hat, kein so betrübtes und niedergeschlagenes Heer mehr gab. [. . .] Nichts war mehr übrig von der Freude, die sie zuvor empfanden, als sie noch das Heilige Grab als ihr Ziel sahen. [. . .] Jeder verfluchte den Tag, an dem er geboren wurde.
Das Heer, jetzt nur noch eine fassungslose, durchnässte Schar, humpelte nach Ramla zurück. Dort rissen Schwermut und Enttäuschung das ganze Unternehmen auseinander. Hugo von Burgund und viele Franzosen zogen davon. Einige begaben sich wieder nach Jaffa, andere nach Akkon, wo es Lebensmittel und andere irdische Vergnügungen in Hülle und Fülle gab. Richard musste sich mit einem ernsthaft geschwächten Heer auf den Weg Richtung Südwesten, nach Askalon machen. 10
NEUORIENTIERUNG
Der König langte am 20. Januar, bei tosendem Wintersturm, der die Stimmung noch weiter verschlechterte, in der zerstörten Hafenstadt an. Die Kreuzfahrer versuchten, mit ihrem Rückzug von Jerusalem so gut es ging fertigzuwerden; auch Richard gab sich alle Mühe, sich vom ersten echten Rückschlag seines Feldzugs zu erholen. Er setzte die Truppen, die ihm noch geblieben waren, für den Wiederaufbau Askalons ein – er war [528] entschlossen, diesen trostlosen Winter wenigstens noch dafür zu nutzen, an der Küste sichtbare Fortschritte zu machen. Heinrich von Champagne war seinem Onkel treu geblieben und unterstützte ihn bei diesem Vorhaben, doch der Wiederaufbau der Festungsanlagen einer derart verwüsteten Stadt war ein gigantisches Unternehmen – das schließlich fünf Monate harter Arbeit in Anspruch nahm und den König ein Vermögen kostete.
Im Februar brach in Nordpalästina eine Krise aus, die chronische Rivalitäten unter den Franken offenbarte. Obwohl der Krieg um das Heilige Land alles andere als beendet war, begannen die Lateiner, sich offen um Akkon zu streiten. Seeleute aus Genua versuchten, die Herrschaft über die Stadt an sich zu reißen, wahrscheinlich mit stillschweigender Billigung Konrads von Montferrat und Hugos von Burgund, und nur der erbitterte Widerstand der pisanischen Verbündeten Richards konnte verhindern, dass der Hafen an Tyros fiel. Der König war empört über diese Aktion, die er als unverschämten Verrat betrachtete, und brach in Richtung Norden auf, um mit Konrad zu verhandeln. Auf halbem Weg zwischen Akkon und Tyros traf man sich. Offenbar fanden »ausgedehnte Diskussionen« statt, doch eine Einigung konnte letztlich nicht erzielt werden, und der Graf kehrte nach Tyros zurück. 11
Richards Feldherrenglück hatte sich in den Bergen von Judäa gewendet, und nun, an der Nordküste, schien ihn auch sein untrüglicher Sinn für diplomatisches Handeln im Stich zu lassen. Er war enttäuscht, dass es ihm nicht gelungen war, Konrad zum Einlenken zu zwingen, daher berief er eine
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