Die Kreuzzüge
übergroßes Risiko. Selbst wenn ein Angriff wie durch ein Wunder erfolgreich sein sollte, wäre es kaum möglich, die Stadt zu halten. Daher sprach sich Richard für einen Angriff auf Ägypten aus: Ein solcher Schlag musste das ajjubidische Reich in seinen Grundfesten erschüttern, und dann wäre es wohl denkbar gewesen, dass [539] Saladin sich auf einen Friedensvertrag nach den Vorgaben Richards einließ. In militärischer Hinsicht war Richards Plan sinnvoll, doch er verkannte die religiöse Unterströmung eines Kreuzzugs. Wenn der König seine Strategie durchsetzte – wenn er die Herzen und Köpfe der Kreuzfahrer gewann, wenn er die Franken überzeugen konnte, dass der Weg zum endgültigen Sieg über den Nil führte –, dann durfte er nicht mehr mit der Einmütigkeit rechnen, die sein Heer im Herbst und Winter des Vorjahrs zusammengehalten hatte. Er musste absolut zwingende Führungsqualitäten beweisen und das Kommando mit Willenskraft und visionärem Nachdruck führen.
Stattdessen schwankte er in den Tagen nach dem 29. Mai, er zog sich zurück zu einsamer Erwägung seiner Alternativen und strategischen Möglichkeiten. Und dann wurde er von den Ereignissen überholt. Unter den Kreuzfahrern wurde der allgemeine Wunsch, nach Jerusalem zu ziehen, immer lauter ausgesprochen. Eine Gruppe lateinischer Barone, wahrscheinlich unter der Leitung Hugos von Burgund, hielt am 31. Mai eine Versammlung ab und beschloss, nach Jerusalem zu marschieren – mit oder auch ohne den englischen König. Die Nachricht von diesem Beschluss sickerte durch, was wohl durchaus im Sinn der Barone war, verbreitete sich sofort im ganzen Heer und rief eine »stürmisch freudige« Reaktion hervor; die Kreuzfahrer tanzten bis nach Mitternacht.
Sogar Ambroise erwähnt, der König sei in diesen Tagen wie gelähmt gewesen: »Er war überhaupt nicht glücklich, sondern zog sich auf sein Nachtlager zurück, ganz aufgebracht von den Nachrichten, die er erhalten hatte.« Und er fügt hinzu: »Ständig erwog er in seinem Zelt [die Neuigkeiten aus England] und grübelte endlos darüber nach.« Er zauderte, die Tage vergingen – und dann ergriff eine Woge von Enthusiasmus das gesamte Lager, getragen von dem einen einzigen Gedanken: Auf nach Jerusalem. Am 4. Juni soll der König, so Ambroise, in seinen Gewissensnöten eine Art religiöse Erleuchtung erfahren haben. Das hatte zur Folge, dass er plötzlich verkündete, er werde »im [Heiligen Land] bis Ostern [1193] bleiben, ohne zurückzukehren, und alle sollen sich auf [die Belagerung von] Jerusalem vorbereiten«. Vielleicht hatte er tatsächlich ein Umkehrerlebnis, doch sehr viel wahrscheinlicher ist, dass er angesichts des zunehmenden Drucks von außen der Stimme und den Sehnsüchten des Volkes nachgab. Er muss wohl, wenn auch nicht deutlich ausgesprochen, einen Feldzug nach Ägypten angestrebt haben, aber auch [540] seine tiefen Zweifel an der Durchführbarkeit eines Angriffs auf die Heilige Stadt waren wohl kaum verschwunden. Trotzdem stimmte er dem Vormarsch nach Judäa hinein zu. Dieses Nachgeben lässt darauf schließen, dass ihm zumindest für den Augenblick die Kontrolle über den dritten Kreuzzug entglitten war. Und obwohl Saladin den Abmarsch der fränkischen Truppen am 6. Juni als Zeichen neu erstarkter Willenskraft deutete, begannen sich in der Befehlsstruktur der Christen fatale Brüche abzuzeichnen. 2
Drohgebärden
Der Vormarsch der Kreuzfahrer auf Jerusalem vollzog sich, als sie erst aufgebrochen waren, bemerkenswert schnell. Am 9. Juni kamen die Franken in Latrun an und zogen am folgenden Tag weiter nach Beit Nuba. Im Herbst 1191 hatten die Christen Monate gebraucht, bis sie so weit vorgedrungen waren. Nun waren sie nach nur fünf Tagen wieder in unmittelbarer Nähe der Heiligen Stadt, nur noch 18 Kilometer von ihren heiligen Mauern entfernt. Saladin ließ immer wieder Überfälle auf den fast ununterbrochenen Strom lateinischer Nachschubkonvois unternehmen, die sich von Jaffa weg landeinwärts bewegten, doch abgesehen von diesen Einzelgefechten versuchte er nicht ernsthaft, das Hauptlager der Kreuzfahrer bei Beit Nuba anzugreifen. Stattdessen begann er seine Truppen innnerhalb der Stadtmauern in Erwartung des drohenden Angriffs in Stellung zu bringen.
Nach den ersten hektischen Aktivitäten geriet die fränkische Initiative offenbar ins Stocken. Ursprünglich wurde diese Verzögerung dadurch verursacht, dass die Lateiner beschlossen hatten, auf Heinrich von Champagne zu warten, der
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