Die Kreuzzüge
Einschnitten [537] bei seinen Truppen und Aufständen zu kämpfen. Es überrascht nicht, dass er in dieser Situation sein Vorgehen im heiligen Krieg sorgfältig überdachte. Im Herbst des Vorjahrs hatte er sich auf eine eher defensive Strategie verlegt; größeren Konfrontationen mit den Franken war er aus dem Weg gegangen, doch blieb er in relativ engem Kontakt mit dem Feind. Seit dem Frühjahr 1192 zog er fast alle seine Soldaten vom Feld ab. Abgesehen von gelegentlichen Überfällen und spontanen Raubzügen setzten sich die ajjubidischen Truppen an leicht zu verteidigenden, über die gesamte Länge Palästinas verteilten Stützpunkten fest, um etwaige Angriffe von Seiten der Christen abzuwehren. Gleichzeitig befahl Saladin ausgedehnte Aufbauarbeiten, um seine wichtigsten Festungen und die Abwehranlagen von Jerusalem zu verstärken.
Diese Vorbereitungen offenbarten eine radikale politische Kehrtwende. Im Jahr 1192 muss Saladin erkannt haben, dass er nicht mehr sicher sein konnte, aus dem dritten Kreuzzug tatsächlich als Sieger hervorzugehen. Diese Erkenntnis veranlasste ihn, den diplomatischen Kontakt wieder aufzunehmen – er suchte Gespräche mit Richard Löwenherz und Konrad von Montferrat. Außerdem musste er seine Verhandlungsposition überdenken. Er schloss nun nicht mehr aus, einen Vertrag auszuhandeln, der auf eine Teilung des Heiligen Landes hinauslief: Die Lateiner sollten dadurch die Herrschaft über einen Teil des Küstengebiets behalten. An zwei Forderungen hielt Saladin allerdings fest: Die Herrschaft über Jerusalem musste in muslimischer Hand bleiben, und Askalon, das Tor nach Ägypten, musste an Saladin zurückgegeben werden.
Saladins Gesamtstrategie in militärischer wie auch in diplomatischer Hinsicht orientierte sich nun vor allem an einem Ziel: den dritten Kreuzzug zu überleben. Er wusste, dass die lateinischen Christen, die zu Tausenden in den Osten gezogen waren, um einen Rückeroberungskrieg zu führen, eines Tages wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Vor allem König Richard konnte es sich nicht leisten, auf unbestimmte Zeit in der Levante zu bleiben. Saladin wollte nur den Sturm überstehen: soweit irgend möglich Verluste vermeiden, direkter Konfrontation unter allen Umständen aus dem Weg gehen, dabei aber den Krieg in Palästina so schnell wie möglich beenden, bevor die ajjubidische Kriegsmaschinerie zusammenbrach. Wenn dann die Kreuzfahrer den Orient endlich verlassen hatten, konnte der Sultan sich ungestört der Erholung und Wiedereroberung zuwenden.
[538] DER ZWEITE VORMARSCH AUF JERUSALEM
Saladin hatte sein Bestes getan, sich auf einen Angriff entweder auf Jerusalem oder auf Ägypten vorzubereiten. Ende Mai und Anfang Juni 1192 sammelten sich nach und nach wieder Truppen aus dem gesamten Vorderen Orient in der Heiligen Stadt. Der Sultan unterhielt außerdem mehrere Spähtrupps, darunter einen unter der Führung Abu’l Haijas, die alle Aktionen der Franken beobachten sollten. Diese hatten ihren Hauptstützpunkt jetzt in der Umgebung von Askalon.
Unentschieden
Am 6. Juni erhielt Saladin eine dringende Warnung: Die Kreuzfahrer marschierten in voller Kampfstärke von Askalon weg in Richtung Nordosten – eine Aktion, die ganz offensichtlich auf Jerusalem zielte. Es schien, als hätten Richard und die Lateiner beschlossen, einen zweiten Anlauf zur Belagerung und Eroberung der Heiligen Stadt zu wagen. Tatsächlich hatte Richard die ersten Junitage in quälender Unentschlossenheit zugebracht. Die Perspektive, dass in Europa ein Bündnis zwischen seinem habgierigen Bruder Johann und Philipp August von Frankreich zustande kam, hatte ihn erschüttert, und er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in den Westen zurückzukehren, und der Alternative, in der Levante zu bleiben und sein Kreuzfahrergelübde zu erfüllen. Erschwerend kam die Frage nach der richtigen Strategie hinzu. Das eigentliche Ziel des dritten Kreuzzugs war die Wiedereroberung Jerusalems, doch Richard hielt dies nach wie vor für eine Illusion.
In mancherlei Hinsicht waren die Voraussetzungen für einen Feldzug der Franken ins Landesinnere nun zwar günstiger als ein halbes Jahr zuvor. Die fränkischen Truppen waren jetzt vereinigt, sie konnten sich auf stabiles Sommerwetter verlassen, und es standen ihnen die Festungen zur Verfügung, die Ende 1191 wieder aufgebaut worden waren. Alle anderen Prämissen jedoch waren unverändert – nach wie vor bedeutete die Belagerung Jerusalems ein
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