Die Kreuzzüge
Männer eben noch kurz vor einer Niederlage gestanden, als die Nachricht vom Durchbruch von Gottfrieds Truppen eintraf. Plötzlich begannen muslimische Verteidiger an der südlichen Front, die nur wenige Augenblicke zuvor noch mit äußerster Verbissenheit gekämpft hatten, ihre Stellung zu verlassen. Einige sah man sogar in Panik von der Mauer springen. Die Provençalen verloren keine Zeit, in die Stadt hineinzustürmen, um sich den anderen Kreuzfahrern anzuschließen. Dann begannen die Plünderungen. 6
Der Horror der »Befreiung«
Nicht lange nach der Mittagsstunde des 15. Juli 1099 ging für die ersten Kreuzfahrer ihr langgehegter Wunsch in Erfüllung: Jerusalem wurde eingenommen. Blutrünstige, rasende Haufen strömten durch die Straßen und überrannten die Heilige Stadt. Was an muslimischem Widerstand noch übrig war, schmolz vor ihnen dahin, doch waren die meisten Franken nicht in der Stimmung, Gefangene zu machen. Stattdessen mündeten die drei Jahre voller Kämpfe, Entbehrungen und Sehnsucht in eine alles verwüstende Sturzflut barbarischen, wahllosen Abschlachtens. Ein Kreuzfahrer berichtete glücklich:
Beim Fall Jerusalems und seiner Türme sah man wundervolle Dinge. Einige Heiden wurden gnädigerweise enthauptet, andere, [117] durchbohrt von Pfeilen, stürzten von Türmen, und wieder andere, die man lange Zeit gefoltert hatte, gingen in lodernden Flammen zugrunde. Haufen abgeschlagener Köpfe, Hände und Füße lagen in den Häusern und Straßen; Mannschaften und Ritter eilten auf den Leichen hin und her.
Viele Muslime flohen zum Tempelberg, wo sich einige zusammentaten und für kurze Zeit Widerstand leisteten. Ein lateinischer Augenzeuge beschrieb, wie »alle Verteidiger sich entlang der Mauern und durch die Stadt zurückzogen, und unsere Männer verfolgten sie, töteten sie und stachen sie nieder, bis hin zur [Al-Aqsa-Moschee], wo das Gemetzel so groß war, dass unsere Männer bis zu den Knöcheln im Blut der Feinde wateten«. Tankred gab einer Gruppe von Flüchtlingen, die sich auf dem Dach der Moschee zusammengekauert hatten, sein Banner, um sie als seine Gefangenen zu kennzeichnen, doch auch sie wurden später kaltblütig von Franken erschlagen. Das Gemetzel war so grauenhaft, dass nach einer lateinischen Quelle »sogar die Soldaten, die an dem Töten beteiligt waren, kaum die Dämpfe aushielten, die von dem warmen Blut aufstiegen«. Kreuzfahrer durchstreiften die Stadt nach Beute und schlachteten wahllos Männer, Frauen und Kinder ab, Muslime und Juden. 7
Weder lateinische noch arabische Quellen scheuen sich, das Grauen dieser Plünderungsaktionen zu schildern, die eine Seite im Triumph über den Sieg, die andere abgestoßen von der ungeheuerlichen Brutalität. In den folgenden Jahrzehnten wurden die von lateinischer Seite in Jerusalem verübten Greueltaten vom Islam des Vorderen Orients als barbarische, schändliche Akte der Kreuzfahrer angesehen, die sofortige Vergeltung forderten. Im 13. Jahrhundert schätzte der irakische Muslim Ibn al-Athir die Zahl der muslimischen Toten auf 70 000. Moderne Historiker hielten diese Zahl lange Zeit für eine Übertreibung, aber die lateinischen Schätzungen von mehr als 10 000 Toten nahmen sie als wahrscheinlich hin. Jüngste Forschungen förderten jedoch eine zeitgenössische hebräische Quelle zutage, die darauf hinweist, dass die Zahl der Opfer kaum über 3000 ging und dass bei der Einnahme Jerusalems sehr viele Gefangene gemacht wurden. Daraus kann man schließen, dass schon im Mittelalter die Vorstellung von der Brutalität der Kreuzfahrer im Jahr 1099 auf beiden Seiten des Konflikts ein Gegenstand von Übertreibung und Manipulation gewesen ist.
[118] Das ändert aber nichts an der sadistischen Abschlachterei durch die Kreuzfahrer. Gewiss, es wurden einige Einwohner Jerusalems verschont; Iftikhar ad-Daulah zum Beispiel fand Zuflucht im Davidsturm und handelte später mit Raimund von Toulouse Bedingungen für seine Freilassung aus. Doch war das fränkische Massaker nicht lediglich ein ungezähmter Ausbruch unterdrückter Wut, vielmehr handelte es sich um eine kaltblütig durchgeführte Mordaktion, die mindestens zwei Tage andauerte. Danach schwamm die Stadt in Blut, und die Straßen waren übersät mit Leichen. In der Hitze des Hochsommers wurde der Gestank bald unerträglich, und man schaffte die Toten vor die Stadtmauern hinaus, sie wurden »aufgeschichtet zu Haufen so groß wie Häuser« und verbrannt. Sogar sechs Monate danach berichtete ein
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