Die Kreuzzüge
Die provençalische Maschine fing Feuer und brach zusammen. Dieser Angriff war vereitelt, und Raimunds Truppen zogen sich in einem Zustand von »Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit« auf den Berg Zion zurück. Allerdings hatte der Umstand, dass die Stadt von zwei Seiten zugleich angegriffen worden war, die fatimidischen Ressourcen so belastet, dass die Nordmauer angreifbar blieb. Dort machten Gottfried und seine Männer am zweiten Tag des Kampfes bedeutende Fortschritte. Die äußere Mauer war durchbrochen, nun konnten sie ihren Belagerungsturm durch diese Lücke in Richtung der eigentlichen Festungsmauern schieben. Unter wahren Wolken von Wurfgeschossen, die den Himmel verdunkelten, bewegte sich der hoch aufragende Bau, dicht besetzt mit Franken, unaufhaltsam vorwärts. Die Zahl der Opfer war immens. Ein lateinischer Chronist erinnert sich, dass »der Tod auf beiden Seiten viele und sehr plötzlich ereilte«. Auf der obersten Plattform des Turmes stand – vollkommen ungeschützt – Gottfried, um die Operation zu leiten. [115] Ein Stein, der einen neben ihm stehenden Kreuzfahrer traf, schlug diesem den Kopf ab.
Von Katapulten abgefeuerte brennende Wurfgeschosse rasten in den fränkischen Turm, der allerdings durch eine Verkleidung aus mit Tierhäuten überzogenem Flechtwerk geschützt war. So konnten die Geschosse keinen Schaden anrichten, und Stück für Stück bewegte sich die Belagerungsmaschinerie vorwärts. Um die Mittagszeit schließlich passierte sie die Bresche in der äußeren Verteidigungsmauer. Nun, da die Kreuzfahrer nur noch wenige Meter von den Hauptwällen entfernt waren und beide Seiten wie besessen mit kleineren Waffen aufeinander feuerten, unternahmen die Ägypter einen letzten Versuch, den Angriff aufzuhalten, indem sie ihrerseits eine »geheime« Waffe einsetzten. Sie hatten einen riesigen hölzernen Balken mit einem dem griechischen Feuer verwandten brennbaren Material auf der Basis von Rohbenzin getränkt, das mit Wasser nicht gelöscht werden kann. Dieser Balken wurde in Brand gesetzt und dann über die Mauer gehievt, um vor Gottfrieds Maschinerie als brennende Schwelle zu landen. Die Angreifer hatten allerdings zu ihrem Glück von Christen aus Jerusalem den Hinweis bekommen, dass es doch ein Mittel gab, dieses schreckliche Feuer zu löschen: Essig. Gottfried hatte seinen Turm deshalb mit einigen Weinschläuchen ausgerüstet, die mit Essig gefüllt waren und nun zum Einsatz kamen, um das Feuer zu löschen. Als dann fränkische Soldaten die rauchenden Überreste des Balkens vor dem Turm beiseite geräumt hatten, war der Weg zur Mauer endlich frei.
Nun hing der Erfolg der lateinischen Offensive davon ab, ob es den Franken gelang, auf der Stadtmauer Fuß zu fassen. Die Höhe des Turmes verschaffte den Franken einen entscheidenden Vorteil, denn die Stadtmauer war an dieser Stelle ungefähr 15 Meter hoch: Gottfried und seine Kämpfer auf der obersten Plattform des Turmes konnten also von oben auf die Verteidiger der Stadtmauer eine Flut von brennenden Wurfgeschossen herabregnen lassen. Und plötzlich, mitten im erbittertsten Kampfgeschehen, bemerkten die Kreuzfahrer, dass ein nahegelegener Verteidigungsturm und ein Teil der Mauer in Flammen standen. Ob mit brennenden Katapultgeschossen oder mit Brandpfeilen, jedenfalls war es den Franken gelungen, das hölzerne Gerüst der Hauptmauer in Brand zu setzen. Dieser Brand »erzeugte so viel Rauch und Feuer, dass keine der Wachen es in der Nähe aushalten konnte« – in Panik ergriffen nun die [116] Verteidiger die Flucht. Im Bewusstsein, dass dieser Zustand der Wehrlosigkeit womöglich nur wenige Augenblicke anhalten würde, ließ Gottfried eilig eine der Schutzvorrichtungen vom Turm ablösen und zu einer Behelfsbrücke hinüber zu den Zinnen der Mauer umfunktionieren. Zugleich begannen auch die Franken am Fuß der Stadtbefestigung mit ihren Sturmleitern die Mauer hinaufzuklettern, um die Stellung ihrer Kampfgefährten zu stärken.
Kaum hatten Gottfried und seine Truppen diesen ersten spektakulären Durchbruch geschafft, da brach die muslimische Verteidigung Jerusalems auf der ganzen Linie zusammen. Als die Ägypter, die an der nördlichen Stadtmauer stationiert waren, sahen, wie die Franken die Zinnen erklommen, flohen sie in Schrecken versetzt von dem Ruf der Brutalität, der den Kreuzfahrern vorauseilte. Bald befand sich die gesamte Garnison in einem Zustand von Chaos und Auflösung. Am Zionsberg hatten offenbar Raimund von Toulouse und seine
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