Die Kreuzzüge
wurde, dem Geschehen fern.
Allerdings war es Balduin unter diesen Umständen nicht möglich, den Königstitel anzunehmen; das setzte eine Krönung voraus. Das sichtbarste Symbol dieses jahrhundertealten Ritus war die Übergabe der Krone, doch stellte sie nicht das Kernstück der Zeremonie dar. Dieses bestand vielmehr im Ritus der Salbung, dem Augenblick, da dem Herrscher von einem der Repräsentanten Gottes auf Erden, etwa einem Erzbischof, einem Patriarchen oder einem Papst, das heilige Chrisam aufs Haupt geträufelt wurde. Nur dieser Akt hob den König von anderen Menschen ab, weil er ihn mit der numinosen Macht göttlichen Wohlwollens tränkte. Um solcherart erhoben werden zu können, musste sich Balduin in irgendeiner Weise mit der Kirche verständigen.
Seine Herrschaft begann mit einer nachdrücklichen Demonstration [136] seines Machtbewusstseins: einem vierwöchigen Feldzug entlang den Süd- und Ostgrenzen seines Reiches zur Sicherung der Pilgerrouten und zur Warnung an die ägyptische Garnison in Askalon. Sowohl seinen Untertanen als auch seinen Nachbarn wurde schnell klar, dass die lateinische Regentschaft mit Balduin neue Zielstrebigkeit und neues Machtgespür hinzugewonnen hatte. Dagobert erkannte rechtzeitig, dass es für ihn ratsam war, unter diesem neuen Regime an seinem Amt festzuhalten, statt den Verlust durch seine Absetzung vom Patriarchenthron zu riskieren. Am 25. Dezember 1100 krönte und salbte der Patriarch in der Geburtskirche zu Bethlehem – also zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, die von Symbolik nur so überquollen – Balduin von Boulogne zum ersten fränkischen König von Jerusalem. Mit diesem Ritual bereitete Dagobert endgültig jeder Vision ein Ende, das Königreich der Kreuzfahrer könne als Gottesstaat weiter bestehen. Seine Unterwerfung verhinderte nicht zuletzt einen potentiellen Bürgerkrieg, der durchaus katastrophale Formen hätte annehmen können.
Allerdings konnte dieses Zugeständnis dem Patriarchen nicht für allzu lange Zeit Sicherheit verschaffen. In den folgenden Monaten und Jahren sorgte Balduin I. mit präzis kalkulierter Effizienz dafür, dass jeglicher verbleibende Widerstand gegen seine Autorität gebrochen wurde und dass die römische Kirche loyal blieb. Dabei erwies es sich als günstiges Zusammentreffen für den König, dass sein bedeutendster weltlicher Rivale Tankred Palästina im Frühling des Jahres 1101 verließ, um während der Gefangenschaft Bohemunds die Herrschaft über Antiochia zu übernehmen. Ein paar Monate später im selben Jahr, als aufgedeckt wurde, dass Dagobert Gelder unterschlagen hatte, die Apulien als Beitrag zur Verteidigung des Heiligen Landes geschickt hatte, wurde er abgesetzt. Nach einer kurzen Rückkehr an die Macht im Jahr 1102 ging Dagoberts Stern dann endgültig unter, und der Sitz des Patriarchen wurde in der Folgezeit nacheinander von einigen vom Papst abgesegneten Kandidaten eingenommen, was schließlich im Jahr 1112 in der Wiedereinsetzung des alten Verbündeten von Balduin, Arnulfs von Chocques, gipfelte. Diese Patriarchen waren zwar alle gegenüber der Krone nicht gänzlich willfährig, doch durchaus bereit, in ein Verhältnis loyaler Zusammenarbeit und gegenseitiger Unterstützung mit dem König zu treten in seinem Bemühen, die fränkische Herrschaft über Palästina zu festigen.
Ein zentrales Anliegen in diesem Bündnis war es, die Heilig-Kreuz-Reliquie, [137] die von den ersten Kreuzfahrern im Jahr 1099 entdeckt worden war, überall bekannt zu machen und ihre Verehrung zu fördern. In den ersten Jahren des 12. Jahrhunderts wurde dieses Kreuz zum Symbol der lateinischen Herrschaft in der Levante. Es wurde entweder vom Patriarchen oder von einem seiner führenden Kleriker in mehreren Schlachten gegen den Islam mitgeführt, und schnell geriet es in den Ruf, Wunder zu bewirken; bald ging das Gerücht, die Franken seien in der Gegenwart des Heiligen Kreuzes unbesiegbar. 5
Erschaffung eines Königreichs
Nachdem Balduins I. Herrschaft gesichert war, stand er vor einer großen Schwierigkeit. Tatsächlich war ja das Königreich, über das er jetzt herrschte, kaum mehr als ein loses Netz verstreuter Außenposten. Die Franken besaßen neben Jerusalem Bethlehem, Ramla und Tiberias, doch waren all diese Orte im Jahr 1100 nur isolierte Enklaven lateinischer Besiedlung. Und selbst dort waren die herrschenden Franken gegenüber der einheimischen muslimischen Bevölkerung und den ostkirchlichen und jüdischen Gemeinden deutlich in der
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