Die Kreuzzüge
Minderzahl. Der Großteil Palästinas aber war noch nicht erobert und befand sich nach wie vor in der Hand halb-autonomer muslimischer Potentaten. Was noch schwerer wog: Die Lateiner hatten noch fast keine Kontrolle über die Küstengebiete der Levante, nur Jaffa und Haifa befand sich in ihrer Hand, und beide Orte boten keinen idealen natürlichen Hafen. Nur wenn Balduin die palästinischen Häfen in seine Gewalt brachte, konnte er hoffen, die Verkehrsverbindungen nach Westeuropa zu sichern, sein Land für christliche Pilger zu öffnen und gewinnträchtigen Handel zwischen Ost und West in Gang zu bringen. Daher standen die innere Sicherheit und die Notwendigkeit, das Territorium abzusichern, an erster Stelle.
Ein lateinischer Augenzeuge, Fulcher von Chartres, beschrieb die Situation wie folgt:
Zu Beginn seiner Regierungszeit besaß Balduin erst wenige Städte und Menschen [. . .]. Der Landweg [nach Palästina] war zu dieser Zeit für unsere Pilger vollständig blockiert, [und die Franken, die es sich leisten konnten,] kamen nur sehr zögerlich auf einzelnen [138] Schiffen, oder in Grüppchen von höchstens drei oder vier Schiffen, deren Kurs mitten durch feindliche Piratengeschwader und an den Häfen der Sarazenen vorbeiführte [. . .]. Einige blieben im Heiligen Land, andere kehrten in ihre Heimatländer zurück. Aus diesem Grund blieb Jerusalem und sein Umland nur spärlich bevölkert, [und] wir hatten zur Verteidigung [des Königreichs] nicht mehr als 300 Ritter und noch einmal so viele Fußsoldaten.
Die Gefahren, die mit diesen Verhältnissen einhergingen, finden ihren Ausdruck auch in den Berichten früher Pilger, die im Vorderen Orient ankamen. Saewulf, ein (sehr wahrscheinlich aus Britannien stammender) Pilger, der seine Reise nach Jerusalem gleich zu Beginn des 12. Jahrhunderts aufzeichnete, beschrieb die in den Bergen von Judäa herrschende Gesetzlosigkeit in verstörenden Details. Die Straße zwischen Jaffa und der Heiligen Stadt, so schrieb er, »war sehr gefährlich, [. . .] weil die Sarazenen ständig aus dem Hinterhalt angreifen [. . .] und Tag und Nacht nach Menschen Ausschau halten, die sie überfallen können«. Unterwegs sah er »zahllose Leichen«, die vermoderten oder »von wilden Tieren zerrissen wurden«, weil keiner das Risiko eingehen wollte, seine Reise zu unterbrechen, um die Körper angemessen zu begraben. Um das Jahr 1107 herum, als ein anderer Pilger, ein als Daniel der Abt bekannter Russe, das Heilige Land besuchte, hatten sich die Verhältnisse ein wenig gebessert, doch auch er beklagte sich bitter darüber, dass es unmöglich sei, ohne den Schutz von Soldaten durch Galiläa zu reisen.
Ein sehr deutliches Zeichen, dass die eigentliche Eroberung des Heiligen Landes noch zu leisten war, setzte im Sommer 1103 ein kleines ägyptisches Überfallkommando, das Balduin I. während eines Jagdausflugs in der Nähe von Cäsarea angriff. Es war offensichtlich ungehindert in lateinisches Gebiet eingedrungen. Der König wurde im Getümmel des Gefechts gestellt und von einer feindlichen Lanze verwundet; exakt lassen sich die Verletzungen nicht rekonstruieren – nach dem einen Zeugnis wurde er »im Rücken nahe des Herzens« getroffen, einem anderen Bericht zufolge wurden ihm »die Hüfte und die Nieren durchbohrt« –, doch müssen sie sehr schwer gewesen sein. Ein lateinischer Zeitgenosse beschrieb, wie »plötzlich auf unheimliche Weise Ströme von Blut aus dieser Wunde austraten [. . .] sein Gesicht wurde blass, [und] dann fiel er vom Pferd zu Boden, als sei er tot«. Dank der umsichtigen Pflege [139] seines Arztes erholte sich Balduin nach langer Rekonvaleszenz wieder, doch blieb er für den Rest seines Lebens von dieser Verletzung gezeichnet. 6
Dem König blieb also nichts anderes übrig, als sich im ersten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts überwiegend der Stabilisierung seiner Herrschaft über Palästina zu widmen, und er ging dabei mit einer Mischung aus pragmatischer Flexibilität und eiserner Entschlossenheit in seinen Verhandlungen mit den muslimischen Einwohnern des Heiligen Landes vor. Frühzeitigen Auftrieb erhielt diese Strategie, als im Jahr 1101 unmittelbar vor Ostern eine Flotte aus Genua in Jaffa einlief, möglicherweise zusammen mit Schiffen aus Pisa. Diese Seeleute waren wohl mit der Absicht Richtung Osten aufgebrochen, bei der Sicherung und Verteidigung der Levante zu helfen und neue Handelswege zu erkunden. Sie ergänzten Balduins Eroberungskampagne um eine dringend
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