Die Kreuzzüge
folgenden zwölf Monaten löste der König von Jerusalem diese politische Krise mit überraschender Raffinesse, indem er seinen alten Widersacher ohne Umschweife an den Rand drängte. Zu seinen Gunsten kann vermerkt werden, dass Balduin keinerlei Versuch unternahm, den Ambitionen Antiochias mit direkter Waffengewalt zu begegnen. Er verlegte sich vielmehr darauf, die Vorstellung von der Geschlossenheit der Franken im Angesicht ihrer muslimischen Gegner deutlich herauszuarbeiten und zu betonen. Mit diplomatischer List bekräftigte er die Vorrangstellung Jerusalems selbst noch in dem Moment, als es ihm um die innere Sicherheit Outremers ging.
Im Sommer 1109 rief Balduin die Herrscher des lateinischen Orients dazu auf, Bertrand von Toulouse bei der Belagerung von Tripolis zu unterstützen. Oberflächlich betrachtet sollte hier eine mächtige fränkische Allianz entstehen, deren Ziel es war, einen störrischen muslimischen Außenposten in die Knie zu zwingen. Der König selbst machte sich mit rund 500 Rittern auf den Marsch in den Norden; Tankred an der Spitze von 700 Rittern traf in Begleitung seines neuen Verbündeten Wilhelm Jordan ein; auch Balduin II. von Edessa und Joscelin steuerten beträchtliche Truppenkontingente bei. Verstärkt durch die provençalischen Schiffe unter Bertrand und eine Flotte aus Genua war hier eine beachtliche Streitmacht zusammengekommen. Unter der Oberfläche jedoch brodelten Parteigeist, Feindseligkeit und Argwohn.
Natürlich ging es im Subtext der gesamten Veranstaltung – was wohl auch sämtliche Führungspersönlichkeiten genau wussten – um die Frage der Machtverteilung bei den Franken. Würde Balduin I. es zulassen, dass sich der Einfluss Antiochias weiterhin ungehemmt ausbreitete, und wenn nicht, welche Gegenmaßnahmen gedachte der König dann zu ergreifen? Als alle zusammengekommen waren, enthüllte der König seine [168] wohldurchdachte Strategie. Bertrand von Toulouse hatte er bereits unter seine Fittiche genommen und ihn im Austausch gegen die Unterstützung Jerusalems zu einem Treueeid überredet. Nun berief er einen Rat ein, um über die Zukunft von Tripolis zu diskutieren. Die Meisterleistung des Königs bestand darin, selbst nicht als zorniger, übermächtiger Herrscher aufzutreten, auch nicht als Tankreds Rivale, sondern vielmehr als unparteiischer Anwalt für Recht und Gerechtigkeit. Nach den Worten eines lateinischen Zeitgenossen hörte der König »den Vorwürfen beider Seiten« zusammen mit einem Schiedsgericht »seiner Getreuen« zu und forderte dann zur Versöhnung auf. Die Erben Raimunds von Toulouse »wurden versöhnt«: Bertrand erhielt die Rechte am größten Teil der Grafschaft zugesprochen, darunter Tripolis, den Pilgerberg und Jubail, und Wilhelm wurde mit Tortosa und Arqa abgefunden. Darüber hinaus aber heißt es, dass auch Balduin II. und Tankred zu einer »Einigung bewogen« werden konnten dahingehend, dass Antiochia die Herrschaft über sämtliche Territorien Edessas abtreten sollte. Zum Ausgleich wurde Tankred wieder als Herrscher über Haifa und Galiläa eingesetzt.
Der König schien eine faire Vereinbarung zustande gebracht und die Harmonie in Outremer wiederhergestellt zu haben. Die vereinigten Heere konnten daher die Belagerung von Tripolis mit neuer Energie fortsetzen; am 12. Juli zwangen sie die muslimische Garnison der Stadt zur Übergabe. In Wahrheit jedoch war Tankred vor den Kopf gestoßen und gedemütigt worden. Er unternahm keine Anstrengung, im Königreich Jerusalem auf seinen Machtansprüchen zu bestehen, nicht zuletzt weil das bedeutet hätte, dass er dem König einen Unterwerfungseid hätte leisten müssen. Dieser hatte seinerseits zwar den Anschein von Unparteilichkeit erweckt, doch hinter dieser Fassade durchaus im eigenen Interesse gehandelt, indem er seine Beziehung zu Edessa von Belastungen freigehalten und seinen eigenen Favoriten als Herrscher über die neu entstandene Grafschaft Tripolis eingesetzt hatte. Er wird kaum über die Maßen betrübt gewesen sein, als bald nach der Kapitulation von Tripolis Wilhelm Jordan »aus dem Hinterhalt ins Herz getroffen wurde und starb«, womit Bertrand nun in eine Position unangefochtener Autorität aufgerückt war.
Im Mai 1110 ergriff Balduin I. eine neue Gelegenheit, seine Position als oberster Herrscher in der lateinischen Levante zu festigen. In jenem Frühjahr reagierte Mohammed, der seldschukische Sultan von Bagdad, [169] endlich auf die Unterwerfung des Vorderen Orients durch die
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