Die Kreuzzüge
Franken. Er entsandte ein mesopotamisches Heer, um Syrien zurückzugewinnen, und zwar unter die Herrschaft Maududs, eines begabten türkischen Generals, der kürzlich in Mosul an die Macht gekommen war. Sein erstes Ziel war die Grafschaft Edessa. Angesichts dieser Bedrohung schlossen sich die Lateiner zusammen, und Maudud musste, als ein großes alliiertes Heer aus Jerusalem, Tripolis und Antiochia rasch näher rückte, seine kurze Belagerung Edessas abbrechen. König Balduin I. nutzte diese Gelegenheit, als alle fränkischen Fürsten versammelt waren, einen zweiten Schlichtungsrat einzuberufen; diesmal sollte das einzige Thema der fortgesetzte Streit zwischen Tankred und Balduin von Bourcq sein. Einem christlichen Zeitgenossen zufolge sollte die Lösung »entweder durch eine faire Gerichtsverhandlung oder durch Übereinkunft einer Versammlung der Mächtigen« zustande gebracht werden. Tankred, der sich darüber im Klaren war, dass ihn wohl alles andere als »faire« Behandlung erwartete, musste zur Teilnahme von seinen engsten Beratern überredet werden, und unmittelbar nach Beginn der Versammlung sah er seine Befürchtungen auch schon bestätigt. König Balduin war der Vorsitzende der Verhandlung, in der Tankred angeklagt wurde, er habe sich mit den Muslimen verbündet und Maudud von Mosul angestiftet, Edessa anzugreifen. Diese Anschuldigungen waren höchstwahrscheinlich reine Erfindung, und natürlich sprach keiner von dem Bündnis Balduins von Bourcq mit Mosul im Jahr 1108 oder davon, dass Balduin I. selbst bereits in Verhandlungen mit Damaskus eingetreten war. Tankred sah sich mit der geballten Kritik der Versammlung konfrontiert und musste befürchten, aus der Gemeinschaft der Franken ausgeschlossen zu werden, also gab er gezwungenermaßen erneut klein bei. Danach scheint er von Edessa keine Tributzahlungen mehr verlangt zu haben.
Antiochias Nachgeben wurde nicht offiziell festgeschrieben, und in den Jahren danach versuchte das Fürstentum erneut, seine Unabhängigkeit durchzusetzen. In den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts schlug sich dieser weltliche Machtkampf außerdem in einem langwierigen und erbitterten Streit um die kirchliche Gerichtsbarkeit zwischen den lateinischen Patriarchen von Antiochia und Jerusalem nieder. Gleichwohl hatte König Balduin im Jahr 1110 zumindest für den Augenblick seine persönliche Autorität behauptet und Jerusalems Stellung als wichtigste weltliche Macht in Outremer durchgesetzt. 20
[170] Tankreds Vermächtnis
Trotz der politischen Rückschläge von 1109 und 1110 sollte Tankred in seinen letzten Lebensjahren noch triumphieren. Mit ungebremster Energie dehnte er die Grenzen seines Reiches aus, so weit es irgend möglich war, kämpfte monatelang nahezu pausenlos und unermüdlich und unterwarf seine muslimischen Nachbarn. In dieser Phase stieß Tankred auf ein bedeutsames strategisches Dilemma, das von der modernen Geschichtsschreibung bislang nicht genügend beachtet wurde. Wie für alle Militärstrategen im Mittelalter, so spielten auch für Tankred die topographischen Gegebenheiten eine zentrale Rolle. Im Jahr 1110 waren die Grenzen des Fürstentums bis zu zwei geographisch vorgegebenen Punkten hin ausgedehnt. Im Osten, an der Grenze zwischen Antiochia und Aleppo, erstreckte sich der Machtbereich der Franken nun bis zum Fuß der Belus-Berge, einem felsigen, wasserarmen, nicht allzu hohen Gebirgsrücken. Im Süden reichte das Fürstentum bis zum Summaq-Plateau und zum Flusstal des Orontes. In diesem Stadium boten diese natürlichen Schwellen, an denen entlang die beiden Grenzen verliefen, dem lateinischen Antiochia wie auch seinen muslimischen Nachbarn eine relativ ausgewogene Balance von Macht und Sicherheit. 21
Tankred hätte sich mit dieser Situation abfinden und den Status quo beibehalten können, der ja durchaus die Möglichkeit einer dauerhaften friedlichen Koexistenz in sich barg. Er zog jedoch das Risiko und den potentiellen Zugewinn vor, den die Fortsetzung seiner Expansionspolitik versprach. Im Oktober 1110 überquerte er die Belus-Berge und begann einen Winterfeldzug, der zur Einnahme mehrerer Siedlungen in der Jazr-Region (östlich der Belus-Berge) führte, darunter al-Atharib und Zardana. Nun lagen nur noch 30 Kilometer offenes, unverteidigtes Gebiet zwischen dem Fürstentum und Aleppo. Anschließend, im Frühjahr 1111, machte er sich auf, in ähnlicher Weise den Süden zu bedrohen, und begann auf einem Hügel in der Nähe von Shaizar mit dem Bau einer
Weitere Kostenlose Bücher