Die Kreuzzüge
neuen Festung. Anfänglich zumindest reagierten Ridwan von Aleppo und die muslimischen Herrscher von Shaizar, der Munqidh-Clan, auf diesen Angriff mit unterwürfigem Entgegenkommen: Sie boten Tributzahlungen in Höhe von insgesamt 30 000 Gold-Dinaren als Gegenleistung für Frieden an.
Für diese Form finanzieller Ausbeutung gab es ein bewährtes Vorbild: [171] Im 11. Jahrhundert hatten die christlichen Machthaber im Norden der Iberischen Halbinsel ihren Einfluss über die zersplitterten muslimischen Stadtstaaten im Süden stetig erhöht, indem sie ein komplexes System jährlicher Tributzahlungen einführten. Dieses System gipfelte im Jahr 1085 in der friedlichen Übernahme der Hauptstadt Toledo, die zuvor lange Zeit in der Hand der Muslime gewesen war.
Vielleicht hatte Tankred mit Aleppo und Shaizar Ähnliches vor: Möglicherweise wollte er auch hier so lange Abgaben einziehen, bis die Finanzen zusammenbrachen, doch war sein Vorgehen nicht ohne Risiko. Wenn der Druck zu groß, die zu leistenden Zahlungen zu hoch wurden, führte das auf Seiten der Ausgebeuteten womöglich zu Gegendruck. In Aleppo hatte die Mischung aus Einschüchterung und Ausbeutung Erfolg; die Stadt leistete auf lange Zeit gehorsam die von ihr verlangten Abgaben. Aber im Jahr 1111 setzte Tankred Shaizar zu stark unter Druck, weshalb sich der Munqidh-Clan nur zu gern mit Maudud von Mosul verbündete, als dieser im September jenes Jahres ein zweites abbasidisches Heer nach Syrien führte. Als nun eine Invasion in die Summaq-Region drohte, mobilisierte Tankred auch noch die letzten Reserven an antiochenischer Schlagkraft. Außerdem rief er seine lateinischen Landsleute zu Hilfe, und trotz der Spannungen, die in jüngster Zeit ihr Verhältnis belastet hatten, eilten die Truppen aus Jerusalem, Edessa und Tripolis erneut herbei. Die vereinte Streitmacht bezog eine Verteidigungsstellung bei Apamea; dieser Standort wurde beharrlich beibehalten, und die Lateiner gingen jedem Versuch Maududs, eine Entscheidungsschlacht herbeizuführen, bewusst aus dem Weg. So erzwangen sie schließlich seinen Rückzug.
Wieder hatte Tankred eine existentielle Bedrohung seines Fürstentums abgewiesen, allerdings wurde jegliche Hoffnung zunichte, Aleppo oder Shaizar endgültig zu erobern, als sich der Gesundheitszustand des Fürsten nach Jahren rastloser militärischer Unternehmungen in seinem 36. Lebensjahr rapide verschlechterte. Der armenisch-christliche Historiker des frühen 12. Jahrhunderts Matthias von Edessa überhäufte den Verstorbenen im Zusammenhang mit dem Bericht von seinem Tod im Dezember 1112 mit Lobpreisungen: »Er war ein heiliger und frommer Mann von freundlichem und mitfühlendem Wesen, und das Wohl aller christlichen Gläubigen lag ihm am Herzen; außerdem zeigte er immer größte Demut im Umgang mit den Menschen.« Diese hymnischen Töne verbergen [172] die dunkleren Seiten Tankreds: seinen unstillbaren Aufstiegshunger, seine Begabung für politische Intrigen; seine Bereitschaft, alles um sich herum zu verraten oder zu bekämpfen, was seiner Machtgier im Weg stand. Es waren diese letzteren Eigenschaften, in Verbindung mit seiner unbändigen Energie, die Tankreds bemerkenswertes Wirken prägten und es ermöglichten, ein dauerhaftes fränkisches Reich in Nordsyrien zu errichten. Gerechterweise sollte die Geschichtsschreibung in Tankred und nicht in seinem ruhm- und ehrlosen Oheim Bohemund den Gründer des Fürstentums Antiochia erkennen. 22
OBERSTER HERR VON OUTREMER (1113 – 1118)
Tankreds Tod fiel in eine Zeit größerer Veränderungen im Machtgefüge im Vorderen Orient, die sich durch eine Mischung aus dynastischer Nachfolge und politischen Intrigen ergeben hatten. In Antiochia übernahm Tankreds Neffe Roger von Salerno die Macht; er war der Sohn Richards von Salerno, der am ersten Kreuzzug teilgenommen hatte. Roger wurde durch verschiedene Eheschließungen innerhalb der höchsten Kreise, die die herrschende Elite von Outremer enger miteinander verband, schnell in die fränkische Gesellschaft integriert. Dieses komplexe Gewebe familiärer Bindungen leitete eine neue Phase vermehrter Abhängigkeit, aber auch stärkeren Zusammenhalts unter den Kreuzfahrerstaaten ein. Roger heiratete die Schwester des Grafen von Edessa, Balduin von Bourcq; Joscelin von Courtenay, der Herr von Tell Bashir, heiratete seinerseits Rogers Schwester. Zu Beginn des Jahres 1112 starb Bertrand von Toulouse, ihm folgte sein junger Sohn Pons als Graf von Tripolis nach. Dieser nahm
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