Die Kreuzzüge
Als Zeugen öffentlich beteuerten, dass Tankred im Jahr 1104 Bohemund tatsächlich versprochen hatte, die Herrschaft über Edessa wieder an Balduin zurückzugeben, sobald dieser freigelassen war, sah sich Tankred widerwillig zum Nachgeben gezwungen. Die Stadt Edessa wurde zwar zurückgegeben, doch der Hass und die Rivalitäten auf beiden Seiten waren nicht ausgeräumt. Tankred weigerte sich beharrlich, Gebiete im Norden der Grafschaft herauszugeben, und erpresste nicht lange danach von Balduin Tributzahlungen im Austausch gegen Frieden mit Antiochia. 19
Dieser Konflikt war noch nicht beigelegt, als Tankreds begehrlicher Blick sich auf die neue Grafschaft Tripolis richtete. Unmittelbar im Anschluss an den ersten Kreuzzug hatte sein alter Rivale Raimund von Toulouse versucht, sich ein eigenes levantinisches Herrschaftsgebiet in den nördlichen Regionen des heutigen Libanons aufzubauen. Dabei sah sich Raimund vor eine besonders schwierige Aufgabe gestellt, weil er im Unterschied zu den Gründern der anderen lateinischen Niederlassungen nicht über Eroberungen aus den Kreuzzugsaktivitäten selbst verfügte, auf denen er hätte aufbauen können, und weil die wichtigste Stadt der Gegend, Tripolis, sich nach wie vor in der Hand der Muslime befand.
Dennoch war Raimund in gewisser Weise erfolgreich, als er im [166] Jahr 1102 mit Unterstützung einer Flotte aus Genua und Überlebenden aus dem Kreuzzug von 1101 die Hafenstadt Tortosa einnehmen konnte. Zwei Jahre später eroberte er im Süden einen zweiten Hafen, Jubail, eine Stadt mit prächtigen römischen Ruinen. Gleichzeitig errichtete Raimund auf einer Anhöhe vor Tripolis eine mächtige Burg, die er Pilgerberg nannte. Mit ihr sicherte er sich die Kontrolle über das Umland. Doch trotz seines beharrlichen Mühens war Tripolis, als der Graf mit gut 60 Jahren am 28. Februar 1105 starb, nach wie vor nicht erobert.
In den Jahren danach versuchten zwei Männer, Raimunds Erbe an sich zu reißen. Sein Neffe Wilhelm Jordan, der als Erster in Outremer eintraf, setzte die Angriffe auf Tripolis fort und eroberte außerdem die benachbarte Stadt Arqa. Im März 1109 traf dann Raimunds Sohn Bertrand von Toulouse im Heiligen Land ein, und er war entschlossen, seine Rechte als Erbe geltend zu machen. Mit ihm kam eine umfangreiche Flotte, mit der die Belagerung von Tripolis verschärft werden konnte, und nun stritten sich zwei Kandidaten um die Rechte an der Stadt, die noch nicht einmal eingenommen war; Wilhelm Jordan verließ dann den Pilgerberg in Richtung Norden. Die gerade entstehende Grafschaft Tripolis sollte allem Anschein nach in erbitterten dynastischen Streitereien zerrieben werden.
Im Grunde ging es im Streit um die Herrschaft über Tripolis um wesentlich mehr als nur um schlichte Erbschaftsfragen; der Streit wurde zum Kernstück einer weiter ausgreifenden Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in den Kreuzfahrerstaaten insgesamt. Wilhelm Jordan wusste, dass er einen Verbündeten brauchte, wenn er sich noch irgendwelche Hoffnungen auf Tripolis machen wollte, und er wandte sich an Tankred und bot diesem an, sein Vasall zu werden. Selbstverständlich ergriff Tankred diese sich plötzlich anbietende Gelegenheit beim Schopf, den Einflussbereich Antiochias nach Süden zu erweitern; wenn Tripolis seinem Herrschaftsbereich zufiel und seine Pläne mit Edessa umzusetzen waren, dann konnte das Fürstentum Antiochia zu Recht Anspruch auf den Titel einer Führungsmacht in Outremer erheben. Die moderne historische Analyse hat die Bedeutung dieser Episode immer wieder unterschätzt, ging man doch davon aus, das Königreich Jerusalem habe zu Beginn des 12. Jahrhunderts ganz von allein als Vormacht im fränkischen Orient gegolten. Natürlich war die Heilige Stadt das Ziel des ersten Kreuzzugs gewesen, und Balduin von Boulogne war der einzige lateinische [167] Herrscher in der Levante, der den Königstitel trug, doch sein Königreich umfasste zwar Palästina, nicht jedoch den gesamten Vorderen Orient. Jeder der vier Kreuzfahrerstaaten war als unabhängiges Staatswesen gegründet worden, und einen Vorrang Jerusalems vor den anderen hatte man nie offiziell festgeschrieben. Seit ihrem Streit um die Herrschaft über Kilikien im Jahr 1097 waren Balduin und Tankred Rivalen gewesen; nun, im Jahr 1109, forderte Tankreds forsches Auftreten Balduins Autorität in einer Weise heraus, die auf das Gleichgewicht der Mächte in der lateinischen Levante einen entscheidenden Einfluss ausüben sollte.
In den
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