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Die Kreuzzüge

Die Kreuzzüge

Titel: Die Kreuzzüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Asbridge , Susanne Held
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übernahm.
    Auf Dauer führten diese Ereignisse dazu, das Wesen und den Wirkungskreis der Autorität des Königs in Palästina neu zu bestimmen. Balduin I. und Balduin II. hatten oft nahezu autokratisch geherrscht, doch im Lauf des 12. Jahrhunderts wurde immer klarer, dass der lateinische Adel die absolute Macht der Monarchie begrenzen konnte. Mit der Zeit ließen sich die gekrönten Herrscher des fränkischen Jerusalems häufiger auf Beratungen mit ihren führenden Adligen ein, und der Rat der wichtigsten Adligen und Kirchenmänner, »Haute Cour« (Hochgericht) genannt, entwickelte sich zum wichtigsten Forum Palästinas für juristische, politische und militärische Entscheidungen. 17
    EINE KREUZFAHRER-GESELLSCHAFT?
    Zu den wertvollsten und schönsten Schätzen, die wir aus der Epoche der Kreuzfahrer besitzen, gehört ein kleines Gebetbuch, von dem man annimmt, dass es im Königreich Jerusalem nach 1130 angefertigt wurde; heute befindet es sich in der British Library in London. Der Psalter, so die Bezeichnung für diese Buchgattung, dient als persönlicher Begleiter eines christlichen Lebens und täglicher frommer Andacht, mit den Gedenktagen der Heiligen und Listen von Gebeten. Sein Einband besteht aus zwei Elfenbeinplatten, die mit unglaublich feinen Schnitzereien reich verziert sind; im Innern des Buches findet sich eine Reihe großartiger Illuminationen mit Szenen aus dem Leben Jesu. Es wurde von mehreren [194] Meistern ihres Faches angefertigt und stellt einen Höhepunkt der mittelalterlichen Buchkunst dar.
    Vor allem aber macht seine Herkunft dieses bemerkenswerte Zeugnis einer längst vergangenen Epoche so außergewöhnlich. Denn man nimmt an, dass dieser Psalter von König Fulk von Jerusalem in Auftrag gegeben wurde, als ein Geschenk für seine Frau Melisende; möglicherweise sogar als Versöhnungsgeste für die Kränkungen des Jahres 1134. Wäre das der Fall, dann würde uns das Buch eine außerordentliche, greifbare Verbindung zu Outremer und zu Melisendes Welt eröffnen. Es ist eine erhebende Vorstellung, einen Gegenstand zu betrachten, vielleicht sogar zu berühren, der dieser Königin gehörte und so eng mit ihrem Alltag verbunden war.
    Doch der Melisende-Psalter hat uns weit mehr zu berichten; allein seine Existenz führt mitten in die Geschichte der Kreuzzüge. Denn die ganze Anlage und der Schmuck des Buches scheinen von einer Kunst und Kultur zu sprechen, in der lateinische, griechische, ostchristliche und sogar islamische Motive sich mischten und zu einer neuen, einzigartigen Form verschmolzen: ein Phänomen, das man als »Kreuzfahrerkunst« bezeichnen könnte. Mindestens sieben Handwerker, die in der Werkstatt der Grabeskirche beschäftigt waren, arbeiteten bei der Herstellung des Psalters zusammen (darunter ein im byzantinischen Stil geschulter Künstler, der eines der Bilder mit seinem eindeutig griechisch klingenden Namen Basilios signierte). Die mit Edelsteinen verzierten Elfenbein-Schnitzereien des Einbands weisen im Großen und Ganzen byzantinische Züge auf, doch sie sind eingefasst von kunstvoll geometrisch verzierten Rahmen, die islamischen Einfluss zeigen. Andere Elemente der Handschrift deuten auf weitere Einflüsse hin: Der Text wird einer französischen Hand zugeschrieben, die reich verzierten Initialen sind westeuropäischen Ursprungs, und der detaillierte Kalender verweist auf englische Traditionen. 8
    Lässt dieser Psalter weitergehende Rückschlüsse auf das Leben in der fränkischen Levante zu? Nach welchen Kriterien war die Gesellschaft, in der Melisende und ihre Zeitgenossen lebten, in sich differenziert? War die Welt der Kreuzfahrer eine Welt dauernder kriegerischer Auseinandersetzungen – eine abgeschlossene Gemeinschaft religiöser und ethnischer Intoleranz – oder ein Schmelztiegel und Ort kulturübergreifenden Austauschs? Diese Fragen führen mitten hinein in die kontroversesten [195] Debatten der gesamten Kreuzzugsforschung. In den letzten 200 Jahren haben Historiker aufregend unterschiedliche Interpretationen von den Beziehungen zwischen fränkischen Christen und den einheimischen Völkern des Vorderen Orients formuliert: Einige betonen die Elemente von Integration, Adaptation und Akkulturation, während andere die Kreuzfahrerstaaten als unterdrückerische, intolerante Kolonialmächte darstellen.
    Bedenkt man die relative Dürftigkeit des überlieferten Materials, das die sozialen, kulturellen und ökonomischen Zusammenhänge erhellen könnte, dann überrascht es

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