Die Kreuzzüge
nicht, dass das Bild von den Kreuzfahrerstaaten häufig mehr über die Hoffnungen und Vorurteile unserer modernen Welt aussagt als über Mentalität und Lebensgewohnheiten im Mittelalter. Für diejenigen, die an einen unausweichlichen »Zusammenstoß der Kulturen« und eine generelle Unversöhnlichkeit zwischen dem Islam und dem Westen glauben, können die Kreuzzüge und die durch sie entstandenen Gesellschaften als schrecklicher Beweis für die angeborene Neigung des Menschen zu Gewalt, Heuchelei und tyrannischer Unterdrückung des feindlichen »Anderen« dienen. Umgekehrt könnten transkulturelle Verschmelzungen und friedliches Miteinander, die es in Outremer ja durchaus gab, dazu dienen, das Ideal der convivencia , des Miteinander-Lebens, zu untermauern, also zu belegen, dass Völker mit unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft in relativer Harmonie zusammenleben können. 9
Gerade wegen dieser offensichtlichen Vielschichtigkeit müssen wir die Welt der fränkischen Levante genau und sorgfältig untersuchen, um Antworten zu finden auf die zentralen Fragen der Kreuzzugsgeschichte, allen voran die beiden entscheidenden Fragen: War die fränkische Eroberung und Kolonisierung des Vorderen Orients etwas historisch Neues, insofern sie im Kontext eines heiligen Krieges geschah, oder handelte es sich um einen eigentlich wenig spektakulären Prozess? Und: Veränderte die Entstehung der Kreuzfahrerstaaten die Geschichte des Abendlands, indem sie Kontakte zwischen den Kulturen und die Verbreitung von Wissen ermöglichte und so zum Nährboden größerer Nähe und Vertrautheit zwischen lateinischen Christen und Muslimen werden konnte?
[196] Das Leben in Outremer
Mehrere Grundgegebenheiten prägten das Leben in den Kreuzfahrerstaaten. Die Gründung von Outremer führte nicht zur Vertreibung oder Deportation der einheimischen Bevölkerung in der Levante. Die fränkischen Siedler regierten vielmehr über Gemeinwesen, deren Bevölkerung die historische Vielfalt dieser Region widerspiegelte: Muslime, Juden und Ostchristen. Die orientalische Christenheit umfasste eine verwirrende Vielzahl christlicher Bekenntnisse und Riten: Armenier, Griechen, Jakobiten, Nestorianer und Kopten; außerdem die syrischen (oder melkitischen) Christen, die den griechisch-orthodoxen Ritus, allerdings in arabischer Sprache, pflegen. Die Verteilung und der jeweilige Anteil dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen war in den einzelnen Kreuzfahrerstaaten aufgrund der überkommenen Besiedlungsmuster sehr unterschiedlich: In der Grafschaft Edessa überwogen die Armenier, im Fürstentum Antiochia die Griechen, und im Königreich Jerusalem gab es wohl einen größeren muslimischen Bevölkerungsanteil.
Die Lateiner herrschten über diese ortsansässigen Untertanen als kleine, elitäre Minderheit. Die Sprache scheint der entscheidende Trennungsfaktor gewesen zu sein. Die Lateiner sprachen üblicherweise Altfranzösisch (in offiziellen Dokumenten wurde Latein verwendet); es gab zwar einige unter ihnen, die Arabisch lernten und andere Sprachen des Ostens wie Griechisch, Armenisch, Syrisch und Hebräisch, doch das blieb die Ausnahme. Viele Franken hatten ihren Wohnsitz in städtischen und/oder küstennahen Gemeinden, lebten also nicht in unmittelbarer Nachbarschaft mit der einheimischen bäuerlichen Bevölkerung. Im agrarisch geprägten Landesinnern wohnten die Franken normalerweise in eigenen Herrenhäusern, getrennt von ihren Untertanen, doch die alltägliche Notwendigkeit, knappe Ressourcen wie Wasser zu teilen, führte immer wieder auch zu intensiverem Kontakt. Kleine ländliche Ansiedlungen gehörten normalerweise nur einer einzigen religiösen Gemeinschaft an; ein Dorf etwa war nur von Muslimen bewohnt, ein anderes nur von Griechen (wie es in Teilen des Vorderen Orients noch heute der Fall ist). Größere Orte und Städte dagegen hatten eine eher gemischte Einwohnerschaft.
Die Franken herrschten also offensichtlich über zahlreiche unterschiedliche »orientalische« Völker, und sie lebten teilweise auch in ihrer [197] Mitte. Isolierten sie sich, oder integrierten sie sich in dieses äußerst vielfältige Umfeld? Nach der Darstellung Fulchers von Chartres, dem Kaplan Balduins I., der in den 1120er-Jahren schrieb, scheinen sich die Franken rasch weitgehend eingefügt zu haben:
Stellt euch vor, ich bitte euch, und erwägt, wie Gott in unserer Zeit den Okzident in den Orient verwandelt hat. Denn wir, die wir Abendländer gewesen waren, sind
Weitere Kostenlose Bücher