Die Krieger 3 - Die Stimme der Ahnen
unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Doch das schien ohnehin nicht möglich zu sein. Obwohl die Sonne erbarmungslos auf die Stadt niederbrannte, gingen zahlreiche Einheimische ihren Geschäften nach, und alle drehten sich neugierig nach den Fremden um.
Eryne kam es vor, als zöge sie besonders viele Blicke auf sich, aber das lag sicher nur an ihrer Angst. Oder war ihr die Entwicklung zur Göttin, von der Zejabel ständig sprach, etwa schon anzusehen? Was für ein grauenvoller Gedanke!
Als die Gefährten um eine Straßenecke bogen, verschwand die
Othenor II
aus ihrem Blickfeld. In den verwinkelten Gässchen wäre jede lorelische Kutsche unweigerlich stecken geblieben. Zejabel bog mehrmals rasch hintereinander ab, und die Mitglieder der zweiten Gruppe mussten ihre Schritte beschleunigen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Trotzdem bekam Eryne im Vorbeigehen einen guten Eindruck von dem fremdartigen Städtchen. Im Schatten der Häuser war es angenehm kühl, und sie liefen an vielen kleinen Läden vorbei, deren Türöffnung mit einem Vorhang verhängt war.
Die Einheimischen lebten bescheiden: Fenster und Türen der Häuser waren winzig, und niemand schien auf die Idee zu kommen, seine Fassade mit Farbe zu verschönern oder mit Blumenkübeln zu schmücken. Die leeren Blicke und dürren Glieder der Passanten zeugten von großer Armut, und hier im Innern der Stadt war auch die Auslage der Läden spärlich. Dennoch lag in den Gassen aus gestampfter Erde kein Unrat herum. Offenbar fürchteten die Einwohner die Strafe der Göttin so sehr, dass niemand ihren Boten Abfälle vor die Füße werfen wollte. Alles in allem war die Hauptstadt der Insel Zuia zwar sauber, aber bitterarm und abweisend. Eryne verstand nun besser, warum die Fischer, die den Hai getötet hatten, mit solcher Begeisterung begrüßt worden waren. Das Leben hier musste trostlos sein.
Nachdem sie mit Cael, Niss und Amanon mehrere Dezillen lang durch die Stadt marschiert war, kamen ihnen Zejabel und die anderen plötzlich entgegen. Nolan zupfte an seinem roten Umhang, hielt drei Finger in die Höhe und bedeutete ihnen so, dass sich in der Gasse, in die sie soeben hatten einbiegen wollen, drei Züu befanden. Zejabel hatte sofort auf dem Absatz kehrtgemacht.
Welchen Weg sie einschlug, schien sie immer mehr dem Zufall zu überlassen, aber immerhin ging ihre Taktik auf, denn bisher waren sie keinem einzigen Boten Zuias in die Arme gelaufen. Eryne wäre ohnehin mit Freuden jede einzelne Gasse der Stadt abgelaufen, wenn sie so nur ihren Feinden entgingen.
Mit der Zeit wurde Eryne zuversichtlicher, auch wenn ihre Anspannung nicht nachließ. Nolan schien die Einheimischen mit seiner Verkleidung abzuschrecken, und so durchquerten die Erben mehrere Stadtviertel, ohne angesprochen zu werden. Doch auch wenn sie bisher Glück gehabt hatten, konnte Eryne es kaum erwarten, endlich aus der Stadt herauszukommen. Jedes Mal, wenn Keb oder Bowbaq um eine Pause baten, um die Weidenkörbe abzusetzen, deren Gewicht ihnen in der Hitze schwer zu schaffen machte, trat sie nervös von einem Bein aufs andere.
Endlich gelangten sie zu dem Gebäude, das Zejabel ihnen am Abend zuvor beschrieben hatte: das Hohe Tribunal der Judikatoren, der einzige Prachtbau der Stadt. Daneben überspannte ein Steinbogen einen Weg, der ins Lus’an führte. An diesem Ort fanden viele Zeremonien statt. Zum Beispiel begann unter dem Tor der Marsch der Jungen, die auserwählt worden waren, Zuia zu dienen, und verdienstvolle Boten wurden hier in einen höheren Rang erhoben. Außerdem war das Tribunal der Sitz der weltlichen Macht der Judikatoren. In diesem Palast hatte Saat zwanzig Jahre zuvor mit den Züu über die Ermordung sämtlicher Nachkommen der weisen Gesandten verhandelt.
Das Tribunal ragte neben einer Handvoll kleinerer Gebäude empor, in denen die Züu-Priester untergebracht waren, die im Hafen Dienst taten. In jedem größeren Dorf der Insel gab es ähnliche Gemeinschaftsunterkünfte, und auch in anderen Ländern verfügten die Züu über solche Quartiere: So bewohnten alle Boten, die im Königreich Lorelien tätig waren, gemeinsam einen geheimen Palast in der Hauptstadt. Nur die höchsten Judikatoren, die Kahati und natürlich die Göttin selbst hatten ihre Privatgemächer, unter anderem, damit niemand davon erfuhr, dass Zuia leibhaftig unter den Menschen weilte.
Den Züu-Priestern war nicht ausdrücklich verboten, eine Familie zu gründen, aber es kam ganz einfach niemand auf die Idee,
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