Die Krieger 3 - Die Stimme der Ahnen
vom vorgezeichneten Weg abzuweichen. Seit jeher machten sich die Boten Frauen gefügig, indem sie ihnen mit Zui’as Rache drohten – das vertraute Zejabel ihren Freunden an, als sie auf dem Platz vor dem Tribunal standen. Schaudernd dachte Eryne daran, wie viele unglückliche Seelen hinter diesen Mauern mit den schmalen Fenstern und der blutroten Fassade schreckliche Qualen erlitten haben mussten. Womöglich hatten manche dort sogar ihr Leben gelassen …
Nach dem Erlebnis mit den drei Wüstlingen in der Herberge hatte sie eine Vorstellung davon, wie sich so etwas anfühlen musste. Fast bedauerte sie, nicht selbst eine Rachegöttin zu sein, denn dann hätte sie das Tribunal, diese steinerne Verkörperung des Bösen, mit einem Fingerschnippen zerstören können.
»Das Tor wird bewacht«, flüsterte Zejabel, nachdem sich die Erben in einer dunklen Ecke zusammengeschart hatten. »Wenn wir hindurchwollen, wird man uns Fragen stellen.«
Vorsichtig beugte sich Eryne ein Stück vor und lugte aus ihrem Versteck. Unter dem verwitterten Steinbogen standen zwei Züu-Priester, während zwei weitere im gleißenden Sonnenlicht über den Platz patrouillierten und sich angeregt unterhielten. Die Wachen wirkten recht schläfrig, aber gewiss ging ihre Teilnahmslosigkeit nicht so weit, dass sie eine achtköpfige Gruppe fraglos passieren lassen würden, selbst dann nicht, wenn sie Nolan für einen der Ihren hielten.
»Wir könnten warten, bis sich der Platz belebt«, schlug Keb vor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sobald es etwas kühler ist, sind mehr Leute unterwegs. Wir würden weniger auffallen.«
»Aber dann werden auch mehr Züu unterwegs sein«, entgegnete Amanon. »Eben deshalb haben wir den heißesten Dekant abgewartet.«
»Verzeiht mir«, murmelte Zejabel. »Ich dachte, das Tor wäre um diese Zeit unbewacht. Nach meinem Verrat müssen sie ihre Wachsamkeit erhöht haben.«
»Wir wissen nicht, ob Zuia überhaupt schon wieder auf die Insel zurückgekehrt ist«, meinte Eryne. »Vielleicht sitzt sie immer noch auf Ji fest.«
»Das würde mich wundern. Außerdem ändert das nichts«, seufzte Zejabel. »Zuia kann ihren Judikatoren von überallher ihre Gedanken übermitteln. Sie hat ihnen Befehle erteilt, so viel ist sicher. Niemand wird mich noch als Kahati anerkennen.«
»Gibt es keinen anderen Ausgang aus der Stadt?«, fragte Cael. »Es wäre doch seltsam, wenn alle Bewohner durch dieses Tor müssten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bauern ihr Vieh jeden Tag über diesen Platz treiben. Dann wäre das Pflaster viel schmutziger.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm Keb bei. »Kein Mist am Stadttor, so etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Ich kenne nur dieses Tor«, sagte Zejabel. »Die Judikatoren führten uns immer an dieser Stelle in die Stadt.«
»Wir sollten nach einem weiteren Tor suchen«, meinte Amanon kurz entschlossen. »Sehen wir in den umliegenden Straßen nach.«
Sie setzten sich erneut in Bewegung. Diesmal übernahm Eryne die Führung, auch wenn sie innerlich vor Angst bebte: Nun war sie diejenige, die nachsehen musste, ob Züu in den Seitenstraßen lauerten, bevor sie um eine Ecke bogen. Doch das Glück war den Erben weiter hold: Nur wenig später entdeckten sie ein Tor in der weißen Kalksteinmauer, die die Stadt umgab.
Misstrauisch näherten sie sich dem Durchgang, da sie jeden Moment damit rechneten, von einer Wache angehalten zu werden. Erst als sie das Tor passiert und unbehelligt ein gutes Stück Weg zurückgelegt hatten, ließ ihre Anspannung ein wenig nach. Endlich lag der Hafen der Insel hinter ihnen.
Nun befanden sie sich in einem Gebiet, zu dem Fremde keinen Zutritt hatten, und eine ganze Weile lang meinte Eryne hinter jedem Baum, an dem sie vorbeikamen, einen Zu zusehen.
Niss litt weniger unter der Hitze als ihr Großvater, dem der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief. Dennoch stöhnte sie wie alle anderen erleichtert auf, als Amanon ihnen endlich gestattete, eine kurze Rast einzulegen. Hinter dem Stadttor hatten sie nur rasch ihre Waffen und das Gepäck aus den Weidenkörben geholt und waren dann mehrere Meilen ohne Pause weitermarschiert. Es wäre zu leichtsinnig gewesen, sich länger in der Nähe der Stadt aufzuhalten.
Mittlerweile waren sie mitten in der Wildnis. Die letzte menschliche Behausung, an der sie vorbeigekommen waren, war ein schäbiger Bauernhof gewesen. Vorsichtshalber hatten sie trotzdem den Weg verlassen, um einen großen Bogen darum zu machen.
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