Die Krieger 5 - Das Labyrinth der Götter
angenehm weich und kühl. Als Erstes kehrte der Tastsinn zurück, auch wenn das viel länger dauerte als sonst. Trotz ihrer Benommenheit wusste Niss genau, dass sie gleich wieder wegdämmern würde, wenn sie sich jetzt zu schnell bewegte. Also blieb sie ruhig liegen und wartete, bis sie vollends erwachte.
Dann drangen Geräusche an ihr Ohr, und fremdartige Gerüche stiegen ihr in die Nase. Auch schmecken konnte sie nun wieder, und obwohl sie längst die Lider hätte heben können, machte sie sich erst einmal langsam mit den unzähligen Sinneseindrücken vertraut.
Nach einigen Dezillen, vielleicht auch mehr, hatten sich ihre Sinne so weit an die Umgebung gewöhnt, dass sie es wagte, die Augen zu öffnen. Sie hatte richtig geraten: Es dämmerte bereits. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen.
Sie blinzelte noch ein paarmal, dann stützte sie sich auf die Ellbogen auf und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass ihr nicht schwindelig wurde. Doch als ihr Blick auf die Gestalten fiel, die um sie herum im Gras lagen, hätte sie sich am liebsten in den Arm gezwickt.
Ich habe nicht geträumt!
Die Erben waren wieder vollzählig und schliefen in kleinen Grüppchen eng aneinandergeschmiegt. Ein Stück entfernt lag Cael zwischen Yan und Leu, die ihren Sohn selbst im Schlaf noch umarmten. Weiter hinten entdeckte sie Corenn, Grigän und Amanon, und sie stellte staunend fest, wie sehr sich die beiden Männer in der schwarzen Lederkluft und mit dem Krummschwert an ihrer Seite glichen.
Unweit von ihnen schlief die Familie von Kercyan: Herzog Reyan, ein gutaussehender Mann mit einem gepflegten blonden Bart, Emaz Lana und die Geschwister Nolan und Eryne, die neben ihren Eltern plötzlich viel jünger wirkten. Aber das traf auch auf Cael und Amanon zu – ja selbst auf Zejabel, die Nolan offenbar gleich mit zu seiner Familie genommen hatte. Niss fragte sich, ob er noch dazu gekommen war, die Zü vorzustellen. Wahrscheinlich nicht. Sie alle waren der euphorisierenden Magie der Gärten verfallen und von einer seltsamen Benommenheit übermannt worden, kaum dass sie einander in die Arme geschlossen hatten. Niss hatte von dieser Wirkung des Jal gewusst, doch es war etwas völlig anderes, sie am eigenen Leib zu erfahren. Und außerdem war sie noch aus einem weiteren Grund in einen Freudentaumel geraten: Als sie an Caels Kuss zurückdachte, strich sie sich unwillkürlich mit dem Finger über die Lippen und sah zu dem schlafenden Jungen hinüber. Auch dieses Erlebnisses wegen war sie froh, es bis ins Jal geschafft zu haben.
Vorsichtig streckte sie ihre immer noch tauben Beine, setzte sich auf und betrachtete ihre ringsum verstreute Familie. Alle neun waren sie da, in ihrer Mitte der friedlich schlummernde Bowbaq, neben dem seine Enkel Jeran und Tolomin, denen er je einen Arm um die Schultern gelegt hatte, wie Zwerge wirkten. Großmutter Ispen lag an seiner Seite und lächelte selbst im Schlaf ihr stilles Lächeln. Niss’ Eltern Robe und Prad ruhten gleich neben ihrer Tochter im Gras, und Tante Iulane und Onkel Harqi schlossen den Kreis auf der anderen Seite.
Niss wagte sich kaum zu rühren. Sie wollte sich diesen wunderbaren Moment am liebsten für immer einprägen. Für dieses Wiedersehen hatte sie viel auf sich genommen. Sie hatte in den Tiefen des Mittenmeers mit dem Tod gerungen und war Zui’as tödlichem Blick ausgesetzt gewesen; sie war in den Geist zahlreicher Feinde eingedrungen und hatte dabei nicht nur im Körper eines Lemuren gekämpft, sondern auch Caels inneren Dämon bezwungen. Die unzähligen Gefahren, die vielen Etappen ihrer Reise, die Entbehrungen, Ängste und Schrecken der letzten Zeit würde sie nie vergessen. Doch sie hatten es geschafft: Sie hatten ihre Familien wiedergefunden. Vorerst kamen ihr die Frage, wer der Erzfeind sein würde, und ihr Kampf gegen Sombre vollkommen unwichtig vor. Darum würden sie sich später kümmern. Alle zusammen.
Sie blieb noch eine Weile sitzen, um mitzuerleben, wie die anderen aufwachten, aber bald konnte sie es nicht mehr erwarten, sich in diesem Wunderland umzusehen. Da sie niemanden wecken wollte, schlich sie auf Zehenspitzen davon und suchte sich einen guten Aussichtspunkt. Der gewaltige Steinbogen, der sich in der Mitte des Tals erhob, zog ihren Blick unwiderstehlich an. Ansonsten sah das Jal’dara genauso aus, wie Bowbaq und Corenn es beschrieben hatten: weitläufige, von schroffen Felshängen umschlossene grüne Wiesen, die vollkommen unberührt und dennoch wie ein
Weitere Kostenlose Bücher