Die Kristallhexe
damit stehen dir alle Möglichkeiten offen.«
Ich glaube ihm, dachte Angela überrascht. Nein, es war mehr als nur Glaube. Der Gedanke, mehr zu sein, als die ganze Welt in ihr sah, hatte sie ein Leben lang begleitet. Nun, nach all den Jahren, bekam sie endlich die Bestätigung, dass sie recht gehabt hatte. Sie war etwas Besonderes.
Die letzten Zweifel schwanden, wurden hinweggespült von Alberichs liebevollem Blick und ihrer eigenen Überzeugung. »Heißt das«, begann sie langsam, »dass ich ein magisches Wesen bin?«
»Deine Seele ist es. Sie gehört einer Nachfahrin von mir, dem Drachenelfen. Das macht sie magisch.« Er räusperte sich. »Dein Körper ist der eines Menschen, er hat mit der Seele nichts zu tun. Trotzdem kann ich verstehen, wenn es dir unangenehm sein sollte, dass wir miteinander geschlafen haben.«
Er war näher an sie herangetreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Nun roch sie seinen seltsam fremden, herben Geruch, der sie schon bei ihrer ersten Begegnung angezogen hatte. Sie ließ seine Hände los und strich über seine Brust, seinen Bauch. Ihre Finger glitten an seinem Körper entlang, immer tiefer.
Zum ersten Mal fühlte sie sich ebenbürtig mit ihm. Sie dachte an die Möglichkeiten, von denen er gesprochen hatte, aber sie fragte nicht danach. Die Macht, die sie plötzlich in sich spürte und die Erkenntnis, eine uralte Drachenseele zu besitzen, erregten sie.
»Nein«, sagte sie lächelnd, »das ist mir nicht unangenehm.« Sie küsste ihn leicht auf die Lippen, zog den Kopf aber zurück, als er den Kuss erwidern wollte. Bisher hatte er mit ihr gespielt, nun war sie an der Reihe.
»Wie du bereits sagtest«, fuhr sie fort, während ihre Finger ihn weiter streichelten, »ist das nicht Angelinas Körper.«
Alberich lachte. Mit einem Ruck riss er Angelas Hemd auf und sank mit ihr zu Boden. Die Steine waren hart und kalt, aber sie bemerkte das kaum. Als sie sich drehte, warf sie eine der Schüsseln um, in denen Alberich sein Blut gesammelt hatte. Rot spritzte es über den Boden und über ihren halb nackten Körper.
Alberich beugte sich zu ihr herab. Seine Augen waren die eines Raubtiers.
»Perfekt«, flüsterte er.
6
Gabe
und Fluch
N achdenklich ging Simon den Weg zum Lager der Menschen hinunter. Er stutzte, als er einen Ast quer darauf liegen sah, und ging um ihn herum.
»Wäre beinahe jemandem auf den Kopf geknallt«, sagte ein Elf mit Kuhhörnern, der am Wegesrand Beeren pflückte. »Verdammte Missgeburten.«
Simon nickte und lächelte, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Seine Gedanken kreisten um Jacks Fragen und seine eigenen, ausweichenden Antworten. Es fiel ihm bereits schwer, anderen Elfen zu erklären, was er tat, bei Menschen war er praktisch hilflos.
Wo sollte er anfangen?
Menschen wie Jack sahen nur die Realität. Er musste etwas sehen, anfassen oder messen können, um es zu verstehen. Vielleicht hatte er sich deshalb den Iolair angeschlossen, denn Waffen, egal ob Pistolen oder Schwerter, erschlossen sich ihm so mühelos wie Simon Zauber. Oder Codes.
Das ist genau der richtige Vergleich, dachte er. Ein Zauber war nichts anderes als Worte und Gedanken, die bei korrektem Gebrauch die Realität veränderten, etwas erschufen, enthüllten, beeinflussten oder vernichteten. Ein Programm bestand aus Buchstaben, Zahlen und Symbolen, und wenn man sie richtig zusammensetzte, löste es etwas aus. Zaubersprüche und Codes ähnelten sich wie Pistolen und Schwerter. Wenn man sich unwohl fühlte, ob in der Menschenwelt oder in Innistìr, suchte man nach etwas, das einem vertraut war. Jack hatte das getan und er auch.
Die Erkenntnis erfreute ihn, selbst wenn sie das Problem nicht löste. Menschen verstanden nicht, was er tat, und sie neigten dazu, das zu fürchten, was sie nicht verstanden. Oder zu hassen.
Und wir machen es ihnen leicht. Die Erkenntnis erfreute ihn weniger. Sie waren Sucher, Geheimnisträger. Immer würde es eine Kluft zwischen ihnen und den anderen Überlebenden geben.
Simon blieb stehen, als der Platz, um den sich die Hütten scharten, in Sichtweite kam. Er nannte die Ansammlung gern Dorf, um einen Hauch von Normalität zu vermitteln, doch der Name hatte sich nicht durchgesetzt. Alle wussten, dass ihre Zeit in dieser Gemeinschaft begrenzt war.
Auf einmal wollte er nicht mehr in seine Hütte zurückkehren. Die Aussicht, entrückt aussehenden Gestalten zu begegnen und zu hören, wie sie vor seiner Tür ihre Botschaft des Wahnsinns
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