Die Kristallhexe
standen einige halb volle Teller, die Gäste hatten die kleine Garküche fluchtartig verlassen.
»War irgendein Fremder in der Küche?«, fragte Simon. »Oder hast du jemanden dort allein gelassen?«
Nerra schüttelte den Kopf. Sie weinte nicht, war vielleicht gar nicht dazu in der Lage, aber Simon konnte sehen, wie tief sie der Tod des Jungen traf - ganz zu schweigen vom Ende ihrer Garküche, denn ob ihre Gäste wiederkommen würden, war mehr als fraglich.
»Was habe ich nur falsch gemacht?«, fragte sie leise. »Wie konnte das passieren?«
»Ich glaube nicht, dass du irgendetwas falsch gemacht hast.« Simon stand auf.
Nerra hob den Kopf. »Dann versucht jemand, mich zu ruinieren.«
»Vielleicht«, sagte er, obwohl das gelogen war. Nerra war das Opfer eines Krieges, in dem sie selbst keine Rolle spielte. Es ging nicht um sie, sondern um jemand anderen.
Um mich, dachte Simon.
Die Köchin tat ihm leid, aber was ihr zugestoßen war, ließ sich nicht mehr ändern. Er musste sich auf seinen eigenen Kampf konzentrieren, auf die Reaktion, die dieser Anschlag - denn etwas anderes sah er in der vergifteten Ramrol nicht - erforderte.
Simon blieb vor der Schmiede stehen. Luca sah auf, als er ihn bemerkte. Schweiß lief ihm über das Gesicht, aber das schien ihn nicht zu stören. Stattdessen wirkte er wie jemand, der genau das tat, was er tun wollte.
»Morgen, Luca«, sagte Simon und dann, nach einem kurzen Blick auf den Schmied: »Kann ich dich kurz sprechen? Ich könnte deine Hilfe brauchen.«
7
Dunkle
Kräfte
A ngela schlug die Augen auf. Weiches Morgenlicht erhellte den Raum, in dem sie lag. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es geschehen war, aber irgendwann hatten sie die Bibliothek verlassen und waren in Alberichs Schlafzimmer gelandet. Sie konnte nicht lange geschlafen haben - nicht nach dieser Nacht, dachte sie lächelnd -, trotzdem fühlte sie sich ausgeruht und wach.
Ihre Hand tastete nach der anderen Seite des Betts, doch die Felle waren kühl. Sie setzte sich auf und sah, dass die Tür zum Wohnzimmer offen stand.
»Alberich?«, rief sie fragend.
»Ah, sehr gut. Du bist wach.« Sie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, dann trat der Drachenelf in den Türrahmen. Er trug nur eine Hose, keine Schuhe und auch kein Hemd. Die Wunden, die er sich selbst zugefügt hatte, waren bereits verheilt.
»Ich muss bald in die Bibliothek zurückkehren«, sagte er, während er sich neben sie auf die Bettkante setzte, »aber wir sollten vorher mit unserer Arbeit beginnen. Es könnte sein, dass uns nicht viel Zeit bleibt.«
Angela runzelte die Stirn. Vielleicht war sie doch nicht so wach, wie sie geglaubt hatte, denn Alberichs Worte ergaben für sie keinen Sinn. Er schien ihre Verwirrung zu bemerken, denn er lächelte und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du hast die Seele eines Drachen und damit seine Macht.«
Er neigte den Kopf, um sich zu korrigieren. »Nicht seine ganze Macht natürlich, aber in dir schlummern gewaltige Kräfte. Sie warten nur darauf, dass sie jemand weckt.«
»Wenn diese Kräfte immer schon in mir waren, weshalb habe ich sie dann nie bemerkt?« Da waren sie wieder, ihre alten Zweifel. Alberich hatte ihr alles erklärt, aber sie musste trotzdem nachhaken.
Er schien es ihr nicht übel zu nehmen. »Weil du in einer Welt lebst, in der diese Kräfte niemals hervorgelockt wurden. Oder hat man dir als Kind gesagt: Heb das Buch dahinten mit reiner Geisteskraft auf?«
Sie lachte. »Nein, das hat bestimmt nie jemand zu mir gesagt.«
»Deine Kräfte sind wie ein Muskel, den du bisher nicht kanntest. Wenn du ihn trainierst, wird er immer stärker werden.« Alberich rutschte näher an sie heran.
»Wie stark?«, fragte Angela.
»Wir werden sehen.« In seinen Augen lag die gleiche Zuneigung, die sie bereits am Vorabend bemerkt hatte. Seit er wusste, wer sie wirklich war, behandelte er sie anders, ehrlicher und liebevoller. Kurz fragte sie sich, ob es sie störte, dass er sie erst durch die Erkenntnis, dass sie die Reinkarnation seiner Urenkelin war, wirklich lieben gelernt hatte, doch dann verneinte sie. Es zählte nur, dass er ihr nun ebenso verfallen war wie sie ihm. Er gehörte ihr.
Tief atmete sie seinen Geruch ein. »Haben wir noch etwas Zeit, um ein paar andere Muskeln zu trainieren?«
Ihre Worte überraschten sie. Vor gerade einmal vierundzwanzig Stunden hätte sie sich nicht vorstellen können, so etwas zu sagen. Doch sie fühlte sich gut dabei.
»Nein, leider
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