Die Kristallhexe
schlafen. Es könnte bis zum Morgen dauern.«
Er berührte den Kristall auf ihrer Brust. »Halte dich ausnahmsweise an meine Bitte und probiere ihn erst aus, wenn ich wieder da bin. Er ist mächtiger als die anderen.«
»Das werde ich.«
Angela sah ihm nach, bis er die Tür geschlossen hatte, dann fuhr sie sich mit beiden Händen durch die Haare und setzte sich auf das Bett. Alles, was er gesagt hatte, stimmte. Luca und Sandra würden ihre Veränderung nie verstehen. Die anderen Überlebenden hatten sie auf Felix’ Seite gezogen, und dort würden sie auch bleiben. Ihr schauderte bei dem Gedanken, was man wohl über sie und Alberich erzählte. Dass sie ihn für ein Ungeheuer hielten, war Angela klar. Sie verstanden nicht, dass in Innistìr andere Gesetze herrschten und das, was ihnen vielleicht monströs und grausam erschien, hier notwendig war.
Alberich tat sein Bestes, das hatte sie in ihrer Zeit mit ihm erkannt. Seine Feinde schürten mit Lügen den Unmut gegen ihn, dabei wollten sie wahrscheinlich nur selbst auf dem Thron sitzen. Und die Überlebenden hatten in diesem Spiel um Macht und Leben die Seite von Alberichs Feinden gewählt.
Was sie zu meinen Feinden macht. Der Gedanke war erschreckend, aber zugleich unausweichlich. Sandra und Luca würden ihr Glück zerstören, wenn sie ihnen die Gelegenheit dazu gab. Sie hatte die beiden verloren, daran war nichts mehr zu ändern. Sie hatte nur noch die Erinnerungen an sie, aber vielleicht war das ja genug.
Angela atmete tief durch. Sie war ruhiger als zuvor, gefasster. Sie spürte, wie sich eine Tür in ihrem Inneren schloss, und sie glaubte nicht, dass sie sich jemals wieder öffnen würde. Ihr altes Leben war vorbei, doch ihr neues begann gerade erst.
Sie stand auf und verließ Alberichs Schlafzimmer. Der Turm, der ihre Angewohnheiten mittlerweile kannte, hatte ihr ein Glas Wein auf den Tisch gestellt und einen kleinen Teller mit Käsestücken. Angela nahm beides und drückte die Klinke zu ihrem Zimmer mit dem Ellenbogen nach unten. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, ganz so, wie sie es abends mochte. Einen Moment lang blieb sie unschlüssig stehen, dann ging sie zu dem Spiegeltisch, stellte Glas und Teller ab und setzte sich auf den Stuhl.
Ihr Gesicht blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Es wirkte so ruhig, wie sie sich fühlte. Sie hatte keine Angst mehr vor dem, was sie in ihren Augen sah. Angela nahm die Bürste und begann, ihr Haar zu kämmen. Es glänzte im Licht. Sie hatte den Eindruck, dass es immer schöner wurde, seit sie sich im Turm aufhielt.
Es ist eine innere Schönheit, dachte sie. Alberich bringt sie hervor.
Sie stutzte, fühlte sich auf einmal beobachtet, so als stünde jemand direkt hinter ihr, so nahe, dass sie seinen Atem spürte. Erschrocken fuhr Angela herum.
Nichts. Niemand stand hinter ihr. Das Schlafzimmer war leer. Ihr Blick glitt zum offenen Fenster. Seit ihrer Ankunft hatte sie es noch kein einziges Mal geschlossen. Weshalb auch? In dieser Höhe konnte ja nichts außer den Schatten von draußen hereinkommen, und die Schatten waren auf ihrer Seite.
»Marcus?«, fragte sie in das leere Zimmer hinein. »Marcus Julius Secundus? Bist du das?«
Sie dachte an die Unterhaltung, die sie geführt hatten. Dass er Alberich nicht mochte, war deutlich zu erkennen gewesen, und dass er bereit war, für seine Überzeugungen zu töten, hatte er selbst gesagt. Waren sie im Turm vielleicht doch nicht so sicher, wie sie glaubten?
Sei nicht albern, wies sie sich selbst zurecht. Dieser Dienst ist seine letzte Chance, erlöst zu werden.
Trotzdem legte sie die Bürste beiseite und stand auf. Sie konzentrierte sich auf die Schatten, suchte nach einem, der sich bewegte. Ihre Hand glitt zu dem Kristall, der um ihren Hals hing.
Im gleichen Moment sah sie die Gestalt. Sie stand keine Armeslänge von ihr entfernt neben dem Bett. Jedes Detail prägte sich Angela mit diesem einen Blick ein: die Pluderhose, das blauschwarze Gewand, das verhüllte Gesicht, in dem rote Augen wie Funken leuchteten, das Kurzschwert in der einen Hand, der Dolch im Gürtel.
Wieso habe ich sie vorher nicht gesehen?
Mühsam hielt Angela ihre Panik zurück. Noch schien die Gestalt nicht zu bemerken, dass sie entdeckt worden war. Sie stand weiter reglos da wie eine Statue. Angela zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie brachte es nicht über sich, dem Eindringling den Rücken zuzudrehen und zur Tür zu gehen, aber das Fenster war nur drei Schritte entfernt. Der
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