Die Kristallhexe
Erschrocken drehte sie den Kopf.
»Runter!«, schrie er.
Jemand brüllte. Angela duckte sich. Eine Klinge schoss über sie hinweg und bohrte sich in die Wand. Der Assassine, der hinter ihr heranstürmte, war größer und kräftiger als die anderen. Mit weit ausholenden Schritten rannte er auf sie zu. Aus den Augenwinkeln sah Angela, wie der Assassine auf der Treppe sich umdrehte und zurücklief, um seinem Kameraden zu helfen. Anscheinend wurde er von dem Angriff ebenso überrascht wie alle anderen.
Marcus hob Kurzschwert und Schild. Angela ließ ihn gewähren, obwohl sie das nicht für notwendig hielt. Ein Gedanke reichte, dann hingen Klingen aus reinem Eis vor ihr in der Luft. Der anstürmende Assassine riss die Augen auf. Er wollte der Gefahr ausweichen, rutschte jedoch auf dem Eis aus und schlitterte auf Angela zu. Marcus rammte ihm das Schwert in die Brust, stieß es so tief in ihn hinein, dass die Spitze über das Eis kratzte.
Der zweite Assassine, der ihn hatte unterstützen wollen, katapultierte sich mit einem Salto über Angela und Marcus hinweg. Elegant landete er auf dem Eis und rutschte den Gang hinunter, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
»Bring dich in Sicherheit!«, rief er. »Ich mache das schon.«
Angela konnte nicht erkennen, wen er damit meinte, aber sie nahm an, dass es die Assassinin war, die seit der Begegnung im Schlafzimmer verschwunden war. Also hielt sie sich auch irgendwo in diesem Stockwerk auf.
Der Assassine blieb am Ende des Gangs stehen. Er atmete schwer. Der Kampf hatte ihn erschöpft, doch er gab nicht auf. Während Angela noch nach ihrer schwächer werdenden Magie tastete, lief er bereits los. Es würde sein letzter Angriff sein; sie war sich sicher, dass er das wusste.
Die Klingen, die sie für den Assassinen erschaffen hatte, der nun tot vor ihr am Boden lag, schossen auf den neuen Angreifer zu. Er wich ihnen nach links aus, lief auf einmal die Wand hinauf wie eine Eidechse. Vom Vorsprung einer Tür stieß er sich ab. Er überschlug sich in der Luft, brachte die Füße nach vorn und schoss auf Angela zu. Es ging so schnell, dass sie nur instinktiv reagieren konnte. Marcus streckte die Arme aus, um sie zur Seite zu stoßen, doch im gleichen Moment materialisierte eine Mauer aus Eis vor ihr.
Der Assassine fluchte, als er mit den Füßen voran gegen sie prallte. Das dicke Eis verzerrte Angelas Wahrnehmung, aber sie glaubte zu sehen, wie er sich abfederte und auf allen vieren landete. Im gleichen Moment warf sie die Mauer um.
Sie begrub den Assassinen unter sich. Er starb lautlos.
Angela sah auf einmal die Decke über sich und begriff erst, als sie Marcus’ Arme spürte, dass sie zusammengesackt war. Das Herz donnerte in ihrer Brust, und sie fühlte sich leer. Es war keine Magie mehr in ihr, sie hatte alles verbraucht.
Laute Stimmen und das Klirren von Schwertern verrieten ihr, dass auch die Assassinin entdeckt worden war. »Ich kann dir nicht mehr helfen«, flüsterte sie Marcus zu. »Du musst die Frau selbst töten.«
»Ich weiß.« Er hob sie hoch und trug sie auf das Schlafzimmer zu. »Mach dir keine Gedanken. Morgen früh werde ich dir ihren Kopf präsentieren.«
Mit diesen Worten schlief Angela ein.
Hanin ließ sich fallen. Wie eine Spinne hatte sie unter der Decke des Gangs gehangen, und als sie Messans Stimme im Stockwerk über sich hörte, wusste sie, dass das ihre letzte Chance war. Yassaf und Inran waren tot, Messan würde es bald sein. Wenigstens sie musste überleben, um den Orden vor der Gefahr zu warnen, die ihnen in diesem Turm drohte.
Und um dem Sayasi von ihrem Versagen zu berichten.
Sie landete zwischen Soldaten, von denen die eine Hälfte zu alt und die andere zu unerfahren war, um ihr gefährlich werden zu können. Beide Klingen hatte sie gezogen, beide setzte sie ein. Männer fielen unter ihren Schlägen und Stichen; diejenigen, die sie nicht tötete, schrien ihren Schmerz heraus und demoralisierten die anderen. Hanin dachte nicht an ihre toten Ordensbrüder, nicht an die Hexe, die über ihr wütete, sondern nur an ihr Ziel, das Fenster, dem sie mit jedem Schritt näher kam.
Sie zog einem alten Mann in zerrissener Uniform die Klinge ihres Dolches über die Kehle, schlug den Schwertarm eines anderen Soldaten zur Seite und sprang. Noch im Flug zog sie die Knie an und schützte ihren Kopf mit beiden Armen.
Das Glas des Fensters zerplatzte. Scherben regneten in der kühlen Nachtluft nach unten, und sie fiel mit ihnen. Der Sturz dauerte länger,
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