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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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unter den Wisch gesetzt zum ›Unterlassen weiterer lebenserhaltender Maßnahmen‹: ›Liao Yiwu‹, und habe ihm mit zitternden Händen sacht die Augen zugedrückt […] auch wenn einen die Erinnerung an solche Abschiede auf immer vergiftet und einem die Gesundheit ruiniert, ich werde meine Seele mit Freuden in dieses gesegnete Gift tauchen, bis eines Tages der nostalgische Infektionsherd von einem Augenblick auf den anderen bösartig wird und mich zerstört und dann meine ganze gesammelte, sorgsam verteidigte und ein wenig erbärmliche Wahrheit mit mir in die Grube fährt […].«

8
    Am Mittag des 2 . Januar 2007 bin ich mit Wu Wenjian über zwei Stunden mit dem Bus durch die Gegend gefahren, um am Ende vom Qianmen den alten Palast im Distrikt Daxing zu erreichen. Hier war, wie man sich erzählt, die Sommerresidenz von einigen Qing-Kaisern gewesen – im Augenblick war alles ganz verwahrlost, Müllberge türmten sich. Mit dem Tiananmen als Achsenmitte strahlt die Stadt Beijing, die Immobilien erstrecken sich bereits bis jenseits des sechsten Rings, und der Müll rollt in großen Wellen aus allen Himmelsrichtungen heran und packt die Stadt schichtweise ein. Bei Dauerregen, mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Hals sind wir wie die Schildkröten hineingekrochen, bogen in ein paar Gassen ein, sind über ein paar Abwässer weg, blieben vor einer fleckigen Eisentür stehen und klopften leise.
    Ein weißhaariger alter Mann öffnete, begrüßte uns und ließ uns ein. Wu Wenjian lächelte, sagte ein paar höfliche Worte, bevor er sagte, er wolle die Brüder Sun sprechen. Der Alte lehnte das kategorisch ab und meinte, solange er atme, werde er auf seine beiden Söhne aufpassen, die würden den Ärger nur so anziehen, er könne nicht zulassen, dass sie sich wieder auf irgend so etwas einlassen.
    Wu Wenjian sagte: Der Herr Lehrer hier hat eigens den langen Weg auf sich genommen, und er ist für seine Umsicht bekannt.
    Der Alte sagte: Sie haben gestern Abend angerufen, ich habe nebenan heimlich gelauscht, sie haben Ihnen ein Interview versprochen, ich nicht. Es ist nicht leicht gewesen, wieder ein normales Leben zu führen, was soll ich denn machen?
    Vergessen Sie es, vergessen Sie es!, fiel ich hastig ein, regen Sie sich nicht auf!
    Der Alte sagte vorwurfsvoll: Meine Söhne sind am 4 . Juni ins Gefängnis gekommen, sie sind über zehn Jahre weg gewesen, ihre Mutter und ich hatten jede Menge Scherereien. Ein bisschen patriotische Begeisterung, nicht länger, als man braucht, um eine Stange Wasser in die Ecke zu stellen. Wenn die anderen das vergessen, sollen sie, aber wir haben das an den Fingern abgezählt. Wir haben die verächtlichen Blicke auszuhalten gehabt, aber am Ende sind die beiden heimgekommen.
    Haben sie denn Arbeit?
    Der Kleine ist 1970 zur Welt gekommen, er ist sehr intelligent, er ist von Pontius zu Pilatus gerannt, wollte immer in einem Joint-Venture-Unternehmen unterkommen, hat dann in einem Kellerlager den Gabelstapler gefahren, immer einen Tag und eine Nacht lang, Punkte sammeln mit Überstunden, das gefällt den Chefs. Der Große ist Jahrgang ’66, der ist ein bisschen einfältig, da muss er halt zeitweise als Transportarbeiter im Kaufhaus arbeiten, er bringt die Waren bis zur Haustür, er lebt davon.
    Wir plauderten noch eine Weile, und die Atmosphäre wurde viel wärmer. Der Himmel verdunkelte sich, es war noch keine fünf Uhr, aber hinter den Fenstern gingen die Lichter schon an. Der Alte war eine Weile ganz aufgeregt, hat ein paar alte Zeitungsausschnitte herausgekramt und sie uns gezeigt. Alles aus amtlichen Zeitungen, und alles nach dem 4 . Juni, da gab es Titel wie »Über 400 Rowdys in Beijing aufgegriffen«, »Achtung, immer noch Rowdys als Heckenschützen unterwegs«, »Spione der taiwanischen Guomindang aufgeflogen«, »Wieder ein paar Rowdys und kriminelle Elemente gefasst«, »Sieben Verbrecher hingerichtet«, »Acht Rowdys zum Tode verurteilt«, »Zwei ausländische Journalisten fristgerecht des Landes verwiesen«.
    Da waren meine Söhne dabei!, rief der Alte und zeigte auf ein vergilbtes Stück Zeitungspapier. Wir schauten genauer hin, und tatsächlich, da stand »Sun Yanru«, der Titel des Artikels lautete: » 36 Vandalen, Plünderer und Brandstifter gefasst«.
    Der Alte hatte eine ganze Menge Zeug zusammengetragen, er hätte ein Archiv zum 4 . Juni aufmachen können.
    Ach, als die beiden im Gefängnis waren, habe ich Tag für Tag alle möglichen Zeitungen gekauft. Andere

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