Die Kugel und das Opium
seiner Entlassung hatte er sich in allen möglichen Mauselöchern verkrochen und schließlich die erstbeste Gelegenheit beim Schopf gepackt und war unter falscher Identität mit einer Reisegruppe nach Thailand gefahren, begab sich dort unbefugterweise zur amerikanischen Botschaft, bat um politisches Asyl, wurde aber wegen »unklarer Herkunft« von einem Posten vor die Tür gesetzt. Anschließend trieb er sich auf den Straßen des fremden Landes herum, hat in einem buddhistischen Tempel den Boden gefegt und lebte von der Hand in den Mund. Er sagte: Ich verstecke mich hier schon vier Jahre und habe im Grunde nur mit den wilden Hunden, von denen die Straßen voll sind, nähere Bekanntschaft geschlossen. Lieber Liao, hilf einem Bruder aus der Patsche! Ich versprach, mich sofort mit den bekannten Konterrevolutionären Liu Qing und Yu Wenli in New York in Verbindung zu setzen, um ihn da rauszuholen. Am anderen Ende hörte ich einen erleichterten Seufzer, und er setzte am Telefon seinen gewaltigen Redeschwall fort: von dem Rad, das sich dreht, vom Massaker des 4 . Juni, von denen, die dem Gefängnis entgangen und ins Ausland geflohen sind und von dort aus die Tyrannei der Kommunistischen Partei anklagen. Wie bewegt die westlichen Regierungen den Chinesen die Green Card ausstellen, es müssten mittlerweile mehrere Zehntausend sein, seit der Niederlage der Guomindang 1949 , als über zwei Millionen vor dem Bürgerkrieg nach Taiwan geflohen seien, die schlimmste Flüchtlingswelle überhaupt. Doch im Augenblick fielen dem politischen Markenzeichen des 4 . Juni vor Altersschwäche die Zähne aus, darauf könne man kaum noch bauen, außer bei so ganz besonders berühmten Leuten wie Liu Xiaobo und Ding Zilin.
Auf welches Markenzeichen denn zu bauen sei?
Wirtschaft, im Bereich der Wirtschaft sei noch etwas zu machen. Die Wirtschaft floriere nicht, die großen westlichen Konzerne machten alle gegen ihre Überzeugung mit China Geschäfte. Wie er höre, sei Amerika bereits das größte Sammelbecken der Welt für flüchtige korrupte Beamte aus China; man brauche nur Geld, ob gestohlen, geraubt, ergaunert, das spiele keine Rolle, man könne es immer in eine Übersiedelung investieren. In China brodele es, in Amerika nicht, in China hassten die einfachen Leute die Reichen, in Amerika nicht. Wenn einer großes Geld investieren wolle, schütze ihn das Gesetz. Wenn einer sich taufen lasse, der chinesischen Kirche beitrete und jeden Tag bete, stehe ihm sogar Jesus zur Seite.
Heißt es nicht, »es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt«?
Das seien alte Vorstellungen. Heute seien die himmlischen und irdischen Wege komplett von reichen Chinesen aufgekauft worden. Ich solle mich doch einmal umschauen, diese Welle von korrupten Flüchtlingen, das sei ja eine Welle noch heftiger als die vom 4 . Juni. Der Unterschied sei lediglich, dass die, die am 4 . Juni am schnellsten weggewesen seien, noch immer als die verantwortungsvolle und ihren Idealen treue intellektuelle Elite gelte; während die, die sich jetzt am schnellsten aus dem Staub machten, Gierhälse seien, Profitmacher, Entertainment-Sternchen, gedungene Gelehrte, alles Ausschuss,
ubi bene, ibi patria.
Das sei einfach menschlicher Müll, den wir da in den Westen exportierten.
Ach ja, und wohin er denn gerannt sei, als kleiner Politischer vom 4 . Juni?
Hauptsache irgendwohin, wo es keine Tyrannen gebe.
Ob er weiter für die chinesische Demokratie kämpfen werde?
Er werde Englisch lernen und seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Und in der Masse untergehen?
Für eine Weile werde das noch nicht gehen. Aber eines Tages, ja. Leute wie er und ich, die im Gefängnis gesessen hätten, würden sich früher oder später alle in der Menge verlieren.
9
Wieder war eine Reihe von Jahren vergangen, ich irrte noch immer obdachlos in meinem Land herum. Das Elend wurde immer größer, die Herzen der Menschen immer tauber. Und die chinesische Wirtschaft boomte und boomte. International kursierte die Behauptung, die wirtschaftliche Entwicklung könne politische Reformen mit sich bringen und die Diktatur in Richtung Demokratie bewegen. Woraufhin die verschiedenen westlichen Länder, die wegen des 4 . Juni Sanktionen gegen die chinesischen Kommunisten verhängt hatten, sich überschlugen, mit den Mördern Geschäfte zu machen – auch wenn diese Mörder weiter einsperrten und mordeten, neues Blut das alte überdeckte und neue
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