Die Kugel und das Opium
untersucht, hoben das Kinn: »Geh nach Hause und bleib dort!«
LIAO YIWU:
Du hast auf deinen Endzeittraum reagiert?
LI BIFENG:
Vielleicht war es Zufall, vielleicht musste es so sein. Kurz, nachdem ich durch ihre Netze geschlüpft war, bin ich zur Universität Sichuan, habe dem Unabhängigen Zusammenschluss der Hochschulen im Untergrund Meldung gemacht, woraufhin eine große Studentengruppe zum Platz gekommen ist, um die Leute dort zu unterstützen. Ich selbst habe ein Fahrrad mit Beiwagen zu einem Propagandawagen umfunktioniert und bin direkt zum Platz. Auf dem Rad waren außer Drucksachen und einem Megaphon noch eine Angestellte vom Radio, die im zweiten Jahr an der Uni Sichuan studierte. Als sich Studenten und Polizei gegenüberstanden, steckte mein Propagandagefährt zwischen ihnen, das Mädel saß mir auf den Schultern und hat mit dem Megaphon auf die beiden feindlichen Fronten eingeschrien. Aber auf einmal sind dunkelgrüne Helme und Schilde vorbeigestürmt, es hat ein paarmal geknallt, Tränengas ist einen Schwanz hinter sich herziehend zum Himmel aufgestiegen und hat sich dann wie ein riesiger Schirm auf alles herabgesenkt. Uns allen verschwamm auf der Stelle alles in Tränen, wir stolperten und fielen herum, ich selbst habe mich auch vom Rad geworfen und gewartet, bis der Nebel vor meinen Augen sich verliert. Mein Propagandagefährt und meine Radiostudentin waren spurlos verschwunden. (Damals gingen Gerüchte um, die junge Frau sei ums Leben gekommen, erst nach Jahren ist herausgekommen, dass sie nicht tot, sondern verhaftet worden war.)
Wir haben darauf sorglos mit ein paar Limonadenflaschen geantwortet und uns dann gleich aus dem Staub gemacht, dass wir die Schlappen verloren haben. Aber die Trauer und die Wut waren schwer zu zähmen. Wir sind direkt zu den Fabriken gerannt und haben die Arbeiter mobilisiert, auf die Straße zu gehen, und sind verzweifelt zurückgekehrt. Als wir wieder an der rechten Seite des Platzes waren, bin ich Yang Wei, einem Freund aus Mianyang, in die Arme gelaufen, wir hatten uns noch nicht begrüßt, da puffte eine Tränengasgranate und traf mich am Hinterteil. Ich schrie auf, habe aus dem Stand einen Satz von drei Ellen gemacht, und die Augen schmerzten wie von Nadelstichen. Yang Wei hat mich, blind wie ich war, auf der Stelle fortgezogen, von überall her, nah und fern, hörte man das dumpfe Geräusch, mit dem die Polizeiknüppel auf die Menschen aufschlugen, und das An- und Abschwellen von entsetzlichen Schreien, vermutlich sind ein paar Hunderten die Köpfe eingeschlagen worden.
Das Kaufhaus des Volkes brannte lichterloh, wir sind dorthin geflüchtet, haben eine Menge Polizei gesehen, die sich dort formierte, da waren Feuerwehrautos, aber sie sind nicht eingesetzt worden, sondern den Passanten hinterher, die Steine geworfen hatten. Ein junges Mädchen rief aus einem Fenster im ersten Stock: »Ihr dürft nicht auf Studenten einschlagen!« Ein Polizist hörte das und hat eine Tränengasgranate in das Fenster geworfen, puff, man sah nichts als einen roten Rauch herausquellen.
Überall waren Leuchtfeuer, und wir sind wohl oder übel zurück zur Uni Sichuan. Die Leute vom Unabhängigen Zusammenschluss der Hochschulen warnten mich: Mach sofort, dass du wegkommst, die Truppen haben schon die Technische Hochschule besetzt, die werden in null Komma nichts auch hier reinkommen! Sie haben mir ein Rad mit Beiwagen beschafft und einen Strohhut, und ich bin Hals über Kopf weg; zurück auf der Straße habe ich die bewegendste Szene dieses 4 . Juni gesehen: Sechs alte Damen, die hier wohnten, knieten mitten auf der Dongfeng-Straße und mahnten die Unterstützungstruppen von der Akademie für Telekommunikation, auf keinen Fall in die Stadt und auf den Platz zu gehen: »Überall sind Soldaten, lauft nicht in euer Verderben!«
Am 4 . und 5 . sind wir zwischen den großen Straßen und den kleineren Gassen hin und her gependelt, die Armee, die unbewaffnete Bevölkerung und die Studenten haben einen Sägezahnkrieg geführt, viele wurden verletzt, überall war Blut, ich habe im Krankenhaus Nr. 5 von Chengdu mit eigenen Augen eine ganze Menge Verwundete gesehen, eine Studentin war gerade in der Notaufnahme.
Ich habe mir sagen lassen, dass das Kaufhaus des Volkes eine ganze Nacht lang gebrannt hat, bis zum Nachmittag des 5 . Juni, da bin ich wieder zurück und habe die qualmenden Ruinen selbst gesehen. Jemand hat aus der Asche Orangensaftflaschen aufgesammelt, doch die Umstehenden haben
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