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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Blut ist müde
    Wir schlafen unter dem Schnee
    Dieses Gedicht bringt mich zurück in die achtziger Jahre, wo ich als junger Mann die Gedichte von Jessenin gelesen habe. Jessenin hat seine Gedichte im russischen Winter geschrieben, unter düster wolkenlosem Himmel, er benutzt dafür Metaphern wie »geflicktes Blumentuch« oder »schmutziges Kopftuch«; dann fällt mir Haizi ein, der sich mit sechsundzwanzig auf die Schienen gelegt hat; und ich denke an mich, früher – ein Dichter, aus dem die Ideen nur so heraussprudelten und der heute keine einzige Zeile mehr zustande bringt.
    Daraufhin fahre ich am 18 . Mai 2005 eigens von Yunnan nach Chengdu, wo ich in der Nähe der Ruinen von Jinsha den Dichter wiedertreffe, wie er heute ist, kurz nach der Verbüßung seiner Strafe und seiner Freilassung.

    LIAO YIWU:
    Deine sieben Jahre waren im Nu vorbei!
    LI BIFENG:
    Der 4 . Juni ist sechzehn Jahre her, alter Liu, du hast von uns am meisten Glück gehabt.
    LIAO YIWU:
    Du meinst, weil ich nicht noch ein zweites Mal in den Palast eingefahren bin?
    LI BIFENG:
    Ganz recht. Damals, im Gefängnis Nr. 3 von Sichuan, haben du und She Wanbao ein Bettgestell geteilt, einer oben, einer unten, jeweils vier Jahre, und schon ein paar Jahre später war er wegen der Chinesischen Demokratischen Partei wieder drin, diesmal für zwölf Jahre; Pu Song hatte seine zehn Jahre abgesessen, war drei Jahre draußen und ist gestorben; Xu Wanping war bereits dreimal drin, insgesamt weit mehr als zehn Jahre, diesmal haben sie ihn wieder angeklagt. Eigentlich hatte er bisher nur ein halbes Leben, die Polizei von Chongqing ist derart übel, ich schätze, er wird über zehn Jahre bekommen, am Ende wird ihm nichts bleiben, als im Knast zu sterben; und ich, von den sechzehn Jahren seit dem 4 . Juni war ich zwölf im Knast, ich hätte fast den Verstand verloren.
    LIAO YIWU:
    Ich habe gehört, du hast drin über zwei Millionen Zeichen geschrieben?
    LI BIFENG:
    Über die Hälfte haben sie beschlagnahmt, aber ein paar zehntausend Zeichen sind übrig.
    LIAO YIWU:
    Ich habe noch die Gedichte und das Tagebuch, das du vor vielen Jahren geschrieben hast. Du Hurensohn, du mieser, je schlimmer es dich getroffen hat, umso reicher war deine Vorstellungskraft. Im 17 . Jahrhundert gab es in Italien einen Philosophen, den Namen habe ich vergessen, der war fast dreißig Jahre eingesperrt, der hat ein Buch geschrieben, das in die Geschichte eingegangen ist:
Der Sonnenstaat
[27] ; noch härter war ein anderer, auch ein Philosoph, dessen Namen ich auch vergessen habe, der hat am Abend, bevor sie ihn aufgehängt haben, ein Buch mit dem Titel
Trost der Philosophie
vollendet. [28]
    LI BIFENG:
    Deshalb …
    LIAO YIWU:
    Deshalb darf man, auch wenn das Ende bevorsteht, nicht verzweifeln.
    LI BIFENG:
    Aber ich bin weder ein Philosoph noch ein Aktivist der Demokratiebewegung, was nun?
    LIAO YIWU:
    Was nun? Kommen wir zu unserem Thema zurück: Wie bist du in den 4 . Juni verwickelt worden?
    LI BIFENG:
    Es wird erzählt, die Studentenbewegung von 1989 ist von Beijing auf Chengdu übergesprungen, und von Chengdu wieder nach Mianyang. Im Mai gingen die Lehrer der Universität von Mianyang und der Fachhochschulen auf die Straße, wir haben das gesehen, waren begeistert und sind selbst zum Bautechnikum der Vorstadt gelaufen, haben versucht, mit denen dort Kontakt aufzunehmen, doch sind wir von Streikposten nicht hineingelassen worden, die uns als »Penner« beschimpft haben und »Aufwiegler«. Wir haben uns so geärgert, dass mein Mitangeklagter Tang Xianquan schrie: »Einen Scheiß verstehst du Hurensohn!« Ich habe ihn sofort ermahnt aufzuhören und unserem Gegenüber geduldig erklärt: »Jeder hat das Recht auf Patriotismus, wir können eine Unterstützung für die Studenten organisieren.«
    Tags drauf haben wir ein paar Parolen und Transparente zur »Unterstützung der Studenten« gemacht und ein paar Stadtbewohner mobilisiert, bei den Demonstrationen mitzumachen. Am 21 . Mai haben dann, obwohl die Sonne vom Himmel stach, zwei-, dreihundert Grünschnäbel von Studenten vor dem Eingang der Stadtverwaltung ein Sit-in veranstaltet. Es gab jede Menge Gaffer, doch keiner hat den Patrioten, denen der Schweiß in Bächen über den Rücken lief, ein Glas Wasser gereicht. Das hat für mich das Fass zum Überlaufen gebracht, ich habe mich auf ein Fahrrad mit Beiwagen gestellt, eine Rede gehalten und die Leute aufgefordert, den Studenten Wasser zu bringen und ihnen Geld zu spenden. Ich habe

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