Die Kugel und das Opium
Tränenkristall, von weitem wird das nicht aussehen wie eine Gedenksäule, sondern wie ein im Winterlicht glänzender, aus ewigen Tränen aufgeschütteter Hügel. Hoffentlich wird auch mein Name unter ihnen sein, aber wenn Sie ihn nicht finden, macht das nichts, er ist mit diesem Abschnitt der Geschichte bereits eins geworden.
Außerdem bin ich überzeugt davon, dass in einigen Jahrzehnten in einem solchen Museum der politischen Bewegungen Hausdurchsuchungen, Inhaftierungen und Kampfkritiken eigene wissenschaftliche Arbeitsbereiche sein werden, zumindest wird es spezielle Untersuchungen dazu geben, wie die »Lehre von den Hausdurchsuchungen« – ein derart gewaltiges Projekt wird mit dem Sammeln, Sichten, Ordnen, Differenzieren und Erforschen des Materials Tausende von Professoren und Assistenten beschäftigen, und seine akademischen Dimensionen werden hinter der Universität Beijing, einer der besten Universitäten des Landes, nicht zurückstehen.
LIAO YIWU:
Was Sie da sagen, das sind Vorstellungen eines Dichters, wie sie von der Maschinerie des Despotismus herausgepresst werden, die werden sich nicht umsetzen lassen. Denn ganz analog könnte China in der Zukunft genauso gut alle möglichen anderen Museen und Gedenksäulen errichten, etwa eine »Gedenksäule für die Bodenreform«, eine »Gedenksäule für die Drei-Anti- und Fünf-Anti-Bewegungen« [32] , eine »Gedenksäule für den Fall Hu Feng«, Gedenksäulen für den Kampf gegen Rechtsabweichler, die Vier Säuberungen, den Großen Sprung nach vorn und die Große Hungersnot; noch weniger dürften Gedenksäulen fehlen für die Kulturrevolution, den Tiananmen-Zwischenfall vom 5 . April 1976 , die Liberalisierungsphase und den Zwischenfall vom 4 . Juni 1989 . Im Augenblick beschäftigen Sie sich mit den inoffiziellen Justizirrtümern oder -verbrechen, wollen Sie dann auch eine Gedenksäule haben für die Chinesischen Underdogs und die Opfer der Justiz? Natürlich dürfen dann entsprechende Mahnmale und Museen für die Falun Gong, die Demokratischen Parteien, die Unabhängigkeit Tibets und Xinjiangs nicht fehlen. Kurz, für jede Rechnung, die noch offensteht, eine Gedenksäule. Unsere Partei hat gegenwärtig einen Arsch voll solcher offener Rechnungen, wie viele Gedenksäulen sollen wir denn errichten? Werden unsere Kinder und Kindeskinder in diesem Gedenksäulenwald noch leben können?
LAO WEI:
Ihre Vorstellungskraft ist noch größer als meine, leider ist es ein Instinkt des Menschen, dass er den Schmerz vergisst, wenn sich die Wunde schließt. Schauen Sie mich an, kaum bin ich einmal zwei Tage nicht durchsucht worden, der Fall ist nicht einmal abgeschlossen, aber ich stehe mit einem lachenden Hippiegesicht hier mit Ihnen herum. Die Leute reden äußerst ungern über bittere Zeiten, wenn du ihnen das gleiche bittere Wasser mehrfach eingießt, dann beschimpfen sie dich als Schwägerin »Xiang Lin«, die dauernd die Geschichte erzählt, wie ihr A Mao von den Wölfen gefressen wurde [33] . In meiner Familie kommt es seit drei Generationen zu Hausdurchsuchungen, mein Großvater war ein alter Grundbesitzer, dessen Geiz den tiefsten Eindruck auf mich gemacht hat. Oben unter den Zimmerbalken hing das alte Rauchfleisch, von Mäusen und Rattenschlangen angefressen, aber er hätte es nie heruntergeholt und jemandem davon gegeben; Walnüsse, Erdnüsse lagen in seinem Schrank sieben, acht Jahre lang, bis Insekten und Termiten sie gefressen hatten – sie selbst zu essen, hat er nicht übers Herz gebracht. Einen Satz Kleider trug er sommers wie winters, äußerst selten sah man ihn die Kleider wechseln und waschen. Als ich klein war, habe ich auf dem verfallenen Grundbesitzerhof zwei Tage zugebracht, und schon hat es mich am ganzen Körper gejuckt, und ich hätte gern die Kleider gewechselt und gewaschen, aber es gab keine Seife. Am Ende hat meine ältere Cousine Gleditschien-Früchte vom Baum geschlagen, die man als Seife benutzen konnte.
Mein Großvater ist nie mit dem Wagen gefahren. Noch mit fast achtzig ist er die zig Kilometer Bergstraße zur Mittelschule meines Vaters in der Kreisstadt zu Fuß herübergekommen. Und wenn er einen sonnigen Tag erwischte, hat er beim Gehen den großen Hosenlatz aufgezogen und Läuse gefangen, und wenn er einen Augenblick nicht achtgab, ist ihm die Hose auf die Füße gerutscht. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass es auf der Welt einen derart harten und schlichten Grundbesitzer geben sollte. Mein Vater erzählte, bei
Weitere Kostenlose Bücher