Die Kugel und das Opium
Anschließend quoll das Blut stoßweise durch ihre Finger, die sie fest um die Brust gelegt hatte. Einige Studentinnen zogen ihr die Bluse aus und entdeckten den Einschuss unterhalb der linken Brust. Es herrschte das reine Chaos, im Dämmerlicht schloss sich der Kreis der Ausnahmetruppen aus allen Richtungen. Wir hatten keine Wahl, wir mussten sie hochnehmen und weiter und immer weiter laufen. Ein paar Minuten später ist sie im Widerschein plötzlich zu sich gekommen und zeigte den traurigen und beschämten Kommilitonen ihr letztes Lächeln: »Kommilitonen! Meine Blüte ist vorbei. Xia Zhilei, mein Name, heißt eigentlich Knospe des Sommers, die welken schnell.«
3
Liu Junhe,
männlich, 56 Jahre, selbständig, Beijing, persönliche Umstände nicht bekannt
Am Morgen des 4 . Juni 1989 hat er wie gewohnt unter dem Pfeilturm an der Qianmen-Straße seinen Melonenstand aufgebaut, wobei er ständig rief: »Dickes Fruchtfleisch, dünne Haut, frische Melonen, sehr süß, sehr knusprig, sonst Geld zurück!«, aber plötzlich kam ein Konvoi von Kampfwagen vorbei, es knallte ein paarmal, die Straßenlaternen wurden ausgeschossen, im Dämmerlicht erreichte das Gemetzel seinen Höhepunkt, die demonstrierenden Massen gingen reihenweise zu Boden und stoben in alle Richtungen auseinander. Als er sah, was da los war, packte er schleunigst seinen Stand zusammen, aber da wurde er während des wahllosen Geballers schon von einer Kugel in der Stirn getroffen, ein Blutstrahl schoss heraus. Wenig später starb er im Beijinger Krankenhaus der Freundschaft.
4
Jiang Jielian,
männlich, 17 Jahre alt, Schüler in der vierten Klasse der Oberstufe der zweiten Mittelschule der Volksuniversität Beijing
Er verließ spät, um halb elf am Abend des 3 . Juni 1989 , sein Zuhause und wurde etwa vierzig Minuten später vor dem Gebäude Nr. 29 in der Fuwaida-Straße in Beijing-Stadt wie viele andere Demonstranten von einer Kugel der völlig von Sinnen um sich schießenden Ausnahmetruppen der Volksbefreiungsarmee niedergestreckt. Anschließend wurde er in die Notaufnahme des nahe gelegenen Kinderkrankenhauses gebracht, die Diagnose des Arztes lautete, die Kugel habe von hinten die linke Brust durchschlagen und das Herz verletzt, der Blutverlust sei hoch. Das Krankenhaus bestätigte schriftlich, dass er »bereits vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus tot gewesen« sei. Am 7 . Juni wurde seine Leiche auf dem Babaoshan-Friedhof eingeäschert, seine Überreste werden von der Familie verwahrt.
5
Wang Nan,
männlich, 19 Jahre, Schüler der zweiten Klasse der Oberstufe der Yuetan-Mittelschule in Beijing-Stadt
Um elf Uhr in der Nacht des 3 . Juni 1989 hat er mit seiner Kamera das Haus verlassen, um »den geschichtlichen Augenblick in Bildern festzuhalten«, etwa eine Stunde später wurde er an der südlichen Einmündung der Nanchang-Straße von einer verirrten Kugel in den Kopf getroffen. Die umstehenden Menschen schrien auf, doch sie wurden von den Ausnahmetruppen mit Warnschüssen daran gehindert, zu dem jungen Mann zu laufen und Erste Hilfe zu leisten.
Wie viele andere Opfer wurde er von den Soldaten hastig auf der Grünfläche vor der Mittelschule 28 von Beijing-Stadt auf der rechten Seite des Tiananmen verscharrt. Drei Tage später verströmten die Leichen einen durchdringenden Geruch, und durch persönliches Eingreifen der Schulleitung wurde die Erlaubnis erteilt, die vielen Leichen auszugraben und sie schnellstmöglich einer Einäscherung zuzuführen. Weil er einen Kampfanzug trug, wurde Wang Nan fälschlicherweise für einen Soldaten der Ausnahmetruppe gehalten und in das Kühlhaus des Huguosi-Krankenhauses geschickt. Bis heute liegen seine sterblichen Überreste auf dem Wan’an-Friedhof.
6
Xiao Jie,
männlich, 21 Jahre, Student, Jahrgang ’ 86 des Nachrichteninstituts der Volksuniversität Beijing
Er hat an der Widerstandsbewegung und dem Hungerstreik auf dem Tiananmen teilgenommen und wurde Augenzeuge, wie nicht wenige seiner Kommilitonen auf den Straßen ihren Blutzoll entrichteten.
Er war voller Trauer, Zorn und auch Angst, kaufte sich ein Rückfahrtticket nach Süden, nach Chengdu, er wollte möglichst schnell weg aus dem Albtraum der Hauptstadt.
Aber um 2.10 Uhr des 5 . Juni 1989 hat er an der Kreuzung der Nanchizi-Straße die Straße überquert und ist unvorsichtig genug gewesen, eine rote Markierung, die die Ausnahmetruppen dort angebracht hatten, zu überschreiten. Ein Soldat rief: »Stehen bleiben!«, doch er
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