Die Kugel und das Opium
etwas davon, er wolle ins Rotlichtviertel; doch auf dem Weg dahin wechselte er das Taxi und hat in der ihm völlig unbekannten Stadt die amerikanische Botschaft in Thailand aufgesucht. Der nach Schweiß stinkende Berufsverschwörer konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten – hatte er doch tatsächlich den Geschmack der Freiheit gekostet!
Es muss im Winter dieses Jahres gewesen sein, als Liao Yiwu plötzlich ein Fax von Yang Wei bekam, in dem er ihm mitteilte, die amerikanische Botschaft habe ihn vor die Tür gesetzt, und fast hätte er sich auf den Straßen herumgetrieben. Aber in Thailand glaubt das ganze Land an Buddha, deshalb hielt sich das Gerücht, Yang sei von einem Mönch aufgenommen worden, kehre jeden Tag den Tempel und lebe vegetarisch. Als Leidensgenosse hat Liao Yiwu immer wieder verschiedene Freunde im Ausland um Unterstützung gebeten, aber politisches Asyl ließ sich nicht schnell bewerkstelligen.
Im Nu waren vier, fünf Jahre verstrichen. In dieser Zeit teilte ihm Liu Qing in Überseetelefonaten mit, Yangs Hintergrund als Mitglied der Demokratiebewegung werde im Grunde anerkannt, und die Abteilung für politisches Asyl der Vereinten Nationen werde sich um ihn kümmern. Mit Ach und Krach werde er für Wohnung und Essen mit den achthundert Bhat, das sind in etwa zweihundert amerikanische Dollar, auskommen. Natürlich betonte der gute Liu auch, dass er sich davon keinen Bauch werde anfressen können.
Und wie geht das dann weiter?, fragte Liao Yiwu.
Ich habe für ihn den Gaststaat kontaktiert, das ist nicht einfach, da gibt es alle möglichen Verordnungen und Rahmenbedingungen, gab der gute Liu zur Antwort, und ansonsten ist er auf sich selbst gestellt.
Liao Yiwu seufzte insgeheim, aber er war überzeugt, dass Yang Wei nicht untergehen würde. Dennoch hat nachher niemand mehr angerufen, ohne einen Ton von sich zu geben.
Eines Tages im Juli 2004 traf der Schriftsteller Wang sich mit Liao Yiwu zum Tee und teilte ihm mit, dass »Yang bereits in Kanada ist«.
Und was weiter?
Er sagt, unter deiner alten Nummer hat er dich nicht erreicht.
Und weiter?
Er schickt dir seine neue Nummer.
Anfang 2011 schwappte die Jasminrevolution aus Tunesien zu uns herüber, das kommunistische China sank herab zu einer gesetzlosen und gottlosen Verbrechergesellschaft. Liao Yiwu konnte sich nur noch mit Mühe halten, tat es Yang Wei nach und floh ins Ausland. Doch am Ende des Jahres bekam er ganz unverhofft einen Anruf einer Freundin Sheng Xue aus Kanada, die ihm mitteilte, dass Yang an schweren Depressionen leide und jemanden verletzt habe, er sei jetzt in einer Nervenklinik. Ich wollte ihn gerade besuchen, sagte Sheng Xue, du bist sein Leidensgenosse, was soll ich ihm von dir sagen?
Er soll um Himmels willen nicht den Verstand verlieren.
Davon kann gar nicht die Rede sein. Vermutlich ist ihm Kanada einfach zu kalt, das bekommt ihm nicht.
Und wenn es ihm tausendmal nicht bekommt, immer noch besser als die Tyrannei in China.
Er spricht davon, nach Thailand zurückzukehren. Er hat das Gefühl, der Tempel dort ist ein Zuhause.
Im Juli 2004 in Chengdu geschrieben
Weihnachten 2011 in Melbourne überarbeitet
Anhang
Liste von 202 Todesopfern
des Massakers auf dem Tiananmen
Gesammelt von den Müttern des Tiananmen ( 1989 – 2011 ),
bereitgestellt von Ding Zilin und Jiang Peikun
1
Lü Peng,
männlich, neun Jahre alt, Schüler des dritten Jahrgangs der Grundschule in der Shunchenggen-Straße
Gegen Mitternacht am 3 . Juni 1989 ist der kleine Junge hinter dem Rücken seiner Eltern aus dem Haus gewischt, angelockt von dem patriotischen Trubel, der viele Erwachsene anzog, doch in der Nähe der Straßenbrücke bei dem Fuxingmen traf ihn eine Kugel der wild um sich schießenden Ausnahmetruppen. Er war auf der Stelle tot. Die aufgebrachte Menge hat seinen Leichnam auf das Dach eines Kabrioletts gelegt und ihn gut sichtbar für alle durch die Hauptstraßen gefahren, um sich so dem Hinmorden von Unschuldigen durch die chinesische Armee, die auch vor kleinen Kindern nicht haltmachte, zu widersetzen.
2
Xia Zhilei,
weiblich, 22 Jahre, Studentin einer Universität aus dem Süden
Kurz nach vier Uhr am Morgen des 4 . Juni 1989 hat sie sich im Gefolge der langen Studentenkolonne vom Tiananmen zurückgezogen, doch als sie sich nach Dongdan wandte, setzte ein wildes Schießen ein, und sie sagte noch im Stolpern: »Schneller! Schneller! Wir müssen uns irgendwo ausruhen! Ich glaube, mich hat eine Kugel getroffen.«
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