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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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    Wie es möglich war, dass der Verräter Yang sich mit zwei Briefmarkenalben unter dem Arm illegal über ein halbes Jahr in gut zehn verschiedenen Städten im Süden herumdrücken konnte? »Ich sammle schon Briefmarken, seit ich klein bin«, gestand der Delinquent, nachdem er den Behörden ins Netz gegangen war, »überall, wo ich hinkam, bin ich zuerst zu einem Briefmarkenmarkt gegangen, und dann hatte ich mein Essensgeld für ein paar Tage.«
    Das Ganze hat landesweit für eine gewisse Zeit ein enormes Ausmaß angenommen, aber der Täter, dessen man dann habhaft wurde, war ein großer Junge, ein Ergebnis, das die erschöpften Polizisten zutiefst deprimierte. Was den Leute noch mehr Kopfschmerzen machte: Yang hatte nicht die geringste Verbindung zum Ausland, man hatte im Grunde keine Ahnung, was dieses »Chinesische Bündnis für Demokratie« sein sollte und wo sich sein Hauptquartier befand. Als man dem »Chinesischen Bündnis für Demokratie, Sichuan« auf den Grund ging, gab Yang zu: »Vorsitzender, stellvertretender Vorsitzender, Leiter der Propagandaabteilung und Sachbearbeiter war ich allein.«
    Dem Amt für Öffentliche Sicherheit, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht riss der Geduldsfaden, Yang wurde schwer misshandelt und in eine Zelle geworfen. Nach ein paar Tagen bekam er die Anklageschrift, und wieder ein paar Tage später fand die Gerichtsverhandlung statt.
    »Eigentlich hatte ich mir genau zurechtgelegt, was ich vor dem Gericht sagen wollte«, erinnert sich Yang Wei, »aber da war kein Gericht, das letzte Wort wurde in einem Sekretariat gesprochen. Die Urteilsbegründung lag längst auf dem Tisch, der Richter nahm sie in die Hand, überreichte sie mir und sagte, ich solle mich trollen. Als ich das nicht tat, hob er mit beiden Händen einen Aktenstoß und schlug ihn mir auf den Kopf.«
    Yang bekam wegen umstürzlerischer Umtriebe drei Jahre und hat im Knast in einer Autowerkstatt saubergemacht, wobei er von morgens bis abends mit einem ein Meter neunzig großen Mörder aus Henan zusammen war. Wenn die beiden Streit miteinander hatten, schaute Yang den Riesenkerl von unter der Achsel her wütend an, als wolle eine Maus sich einer bösen alten Katze widersetzen.
    Einmal wurden die politischen Gefangenen, die einen Hungerstreik durchführten, von einer gut zehnfachen Übermacht von normalen Kriminellen umstellt, die böse alte Katze aus Henan sah ihre Chance, ging in aller Gemütsruhe auf die Maus zu, griff mit einer seiner gewaltigen Pratzen den Kleinen am Kragen, hob ihn hoch und ließ ihn strampeln und zappeln. Die Meute brach in schallendes Gelächter aus. Diese Situation hatte etwas Symbolisches, das noch Jahre später in den Träumen von Liao Yiwu aufschien: Er wurde von einer unsichtbaren Hand, die sich aus dem Universum auf ihn herabsenkte, ergriffen, sie ließ ihn zappeln, bis er mit Wadenkrämpfen erschöpft aus dem Schlaf fuhr.
    Im Frühjahr 1993 wurde Yang wieder auf freien Fuß gesetzt, kehrte in seine Heimat zurück und arbeitete als Tagelöhner, fuhr eine Fahrradrickscha und lieferte den kleinen Restaurants am Fluss das Bier. Damit verdiente er sich ein wenig Geld, bis es anfing, ihn unerträglich in den Füßen zu jucken. Er ist zweimal durch ganz China gereist, ist auch bei seinem Leidensgenossen Tan Lishang aus Guizhou, der nach ihm entlassen worden war, vorbeigekommen, sie haben zusammen gegessen, gewohnt und gearbeitet. Eines Tages klingelte bei Liao Yiwu das Telefon, er nahm den Hörer ab, meldete sich mit »Hallo«, doch von der anderen Seite kam keine Reaktion; er fragte wieder: »Wer ist denn da?«, doch es knackte, aufgehängt.
    Liao Yiwu fragte sich noch, was das sollte, als Yang auch schon vor der Tür stand: des Rätsels Lösung, mit staubigem Kopf und verdrecktem Gesicht. Er war gerade von Shenzhen mit einem Bummelzug nach Chengdu gekommen und hatte sich sofort zu Liao Yiwu begeben, den er sehr verehrte. »Zwei Bände
Beijinger Frühling
und einen Band
Das linke Unheil Chinas
. Und dann noch an die hundert Hongkong-Dollar, mit dem Kopf von Königin Elisabeth, hast du die schon einmal gesehen?«
    Liao Yiwu, der das Geld mit Freuden sah, nahm es, gab es wieder zurück und sagte ständig anerkennend: »du gehst mit der Zeit«, woraufhin Yangs großes Gesicht sofort rot wurde wie ein schmutziger Apfel. Von diesem Augenblick an schloss Yang die Tür hinter sich und las wie besessen die verbotenen Bücher der Demokratiebewegung und alte und neue Kriminalromane aus China und

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