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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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naiv!
    LIAO YIWU:
    Eure Intuition war sehr scharfsinnig.
    YU ZHIJIAN:
    Aber wir hatten unsere Wurzeln nicht hier, wir konnten uns da nicht einmischen. Wir haben wiederholt versucht, die Absperrungen zu überwinden und mit der oberen Ebene der Studentenbewegung zu reden, aber wenn Streikposten mich in meinem losgelassenen Zustand sahen, wollten sie mich nicht weiter zu ihrer Kommandozentrale vorlassen, ganz zu schweigen von den Chefs ihres Selbständigen Zusammenschlusses. Eine blöde Situation, was sollte ich tun? Also haben wir ihnen eine schriftliche »Empfehlung« überreicht und auf die Streikposten im Guten wie im Bösen eingeredet, sie ihnen zu geben, damit sie sie wenigstens »gemeinsam zur Kenntnis« nahmen.
    LIAO YIWU:
    Erinnerst du dich noch, was in dieser »Empfehlung« stand?
    YU ZHIJIAN:
    Erstens, der Selbständige Zusammenschluss der Hochschulen muss im Namen des ganzen Volkes verkünden, dass die Regierung der chinesischen Kommunisten illegitim ist; zweitens, Aufruf der Arbeiter Beijings und des gesamten Landes zu einem Generalstreik; drittens, die Streikposten der Studenten und Arbeiter … das, mein Gott, das fällt mir im Augenblick nicht mehr ein.
    LIAO YIWU:
    Das reicht auch schon. Gab es darauf eine Reaktion vonseiten der Studenten?
    YU ZHIJIAN:
    Nicht die kleinste Nachricht. Damals ging es drunter und drüber. Vielleicht haben sie unser Schreiben überhaupt nicht bekommen.
    LIAO YIWU:
    Ziemlich deprimierend. Vielleicht wolltet ihr auch zu viel.
    YU ZHIJIAN:
    Deshalb waren wir so ratlos.
    LIAO YIWU:
    Wenn man sich nicht einig ist, kann man nicht zusammenarbeiten, ihr hättet einfach in den Sack hauen sollen.
    YU ZHIJIAN:
    Das ging nicht, wir waren von so weit her nach Beijing gekommen, wie hätten wir nicht Verantwortung übernehmen können? Yu Dongyue war so voller Trauer und Wut, er war schwer zu zügeln, er machte den Vorschlag einer kollektiven Selbstverbrennung. Wir haben verschiedene Pläne in dieser Richtung entworfen, wie zum Beispiel die Goldwasser-Brücke zu stürzen, uns gegenseitig mit Benzin zu übergießen und dann gleichzeitig anzuzünden, das hätte bestimmt eine ziemliche Wirkung gemacht. Aber welches Motiv sollte die Selbstverbrennung haben? Sollten wir vor unserer Selbstverbrennung ein »Selbstverbrennungsmanifest« herausgeben oder es im Nachhinein über diesen und jenen im ganzen Land bekanntmachen lassen, dass wir uns für die Demokratie und für die Freiheit geopfert hätten, im Widerstand gegen die Tyrannei, um die Massen aufzurütteln? Aber es pressierte, wenn wir etwas falsch machten, dann verstand keiner, warum wir uns eigentlich verbrennen mussten, und dann war unklar, ob unser Tod in der gegenwärtigen Lage überhaupt etwas nutzte und nicht die ganze Bewegung in den Dreck zog.
    Ach, es ergab keinen Sinn. Ich schlug einen Ersatzplan vor, wir konnten das Konterfei von Mao Zedong, das da am Tor zur Verbotenen Stadt hing, herunterholen, das würde einen symbolischen Punkt unter die Tyrannei der Kommunistischen Partei setzen. Yu Dongyue und Lu Decheng waren auf der Stelle einverstanden. Am 22 . Mai haben wir drei zwischen Mitternacht und Tagesanbruch den Plan durchdiskutiert. Auf das Tor klettern und das Mao-Bild wegnehmen, das schien machbar zu sein, aber damals herrschten strenge Vorsichtsmaßnahmen, da war es schwerer, auf dieses Tor zu klettern, als ins Paradies zu kommen. Am Vormittag des folgenden Tages haben wir uns mit den rotgeränderten Augen von Fieberkranken den Kopf zerbrochen, wo wir eine Leiter herbekommen sollen. Als wir eine aufgetrieben hatten, stellten wir sie an dem Tordurchgang unter Mao auf, hoben den Kopf, und da blieb uns augenblicklich die Luft weg – dieser Scheißtyrann, ein Leben lang ritt er über unseren Köpfen seine Gewaltherrschaft, wie viele Jahre Tränen und Leid, aber mit unserer mehrere Mann hohen Leiter kamen wir nicht hin!
    Wir haben uns das abwechselnd von unten genau angesehen. Wir haben die Mauer mit Blicken abgesucht, sie einen halben Tag angestarrt, bis uns klarwurde, dass die Nägel, an denen das Mao-Bild hing, armdick waren. Das hieß, selbst wenn wir eine Leiter heranschafften, die hoch genug war, und wir bereit waren, uns in Stücke reißen zu lassen, es doch nicht sicher war, dass wir den Kaiser auch würden da herunterholen können.
    LIAO YIWU:
    Ist niemand auf euch aufmerksam geworden?
    YU ZHIJIAN:
    Da hat niemand auf irgendwen geachtet. Im Zentrum eines solchen Gewittersturms sind die Leute die meiste Zeit ziemlich

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