Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
lax, am Rand und allein. Natürlich werden das die Leute, die im Brennpunkt des Weltinteresses standen, anders sehen.
    LIAO YIWU:
    Und da seid ihr auf die Idee gekommen, den Tyrannen zu einem Gang faule Eier einzuladen? Damals war ich noch zu Hause, in den Bergen, in Fuling, und habe in der Liveübertragung mit eigenen Augen eure in der Geschichte beispiellose Großtat mitverfolgt. Ich war ganz betäubt. Ich erinnere mich, wie Chen Duo, dem grauhaarigen Vor-Ort-Korrespondenten des Zentralfernsehens, die Stimme zitterte.
    YU ZHIJIAN:
    Erst als klar war, dass wir Mao da nicht runterholen konnten, kamen wir auf diese Notlösung. Wir sind in ein Kaufhaus in der Wangfujing gebummelt und haben zwanzig Eier gekauft. Ursprünglich hatten wir vor, die Entfernung pi mal Daumen abzuschätzen und dann das Mao-Bild direkt mit den Eiern zu bewerfen. Aber nach kurzer Überlegung fanden wir die Farbe der Eier zu blass, man würde die Spritzer kaum sehen können. Ein Glück, dass Yu Dongyue ganz gerne malte, er sagte, wir kaufen Ölfarben, mischen ein dunkles Grau zusammen und füllen die Eier damit. So müsste es gehen.
    Die Vorbereitungsarbeit zog sich ewig hin, aber wir nahmen das sehr ernst. Wir kauften besonders gutes Reispapier, Tusche, Ölfarben, Pinsel, Verdünnung und Leim, anschließend liefen wir zur Post, um unseren Angehörigen unsere Testamente zu schicken. Ich habe sogar vergessen, was ich da hineingeschrieben habe, ich glaube jede Menge Verse von Byron. Lu Decheng dachte schwer nach, während er schrieb, er strengte sich richtig an, da kamen allerhand Gefühle in ihm hoch, er war das einzige Kind. Später habe ich gehört, dass seine Eltern, als sie die Liveübertragung sahen, auf der Stelle in Ohnmacht fielen. Was Yu Dongyue geschrieben hat, daran erinnere ich mich noch ein wenig genauer. Er hatte in Liuyang fünf Blutsbrüder, er hat über dem Tisch gehangen und einen Brief nach dem anderen geschrieben. Irgendwas von, sie sollten von Don Quichottes Kampf mit den Windmühlen lernen, von »Der Wind, er weht/Kalt ist der Fluss Yi/Der Held, er geht/Heim kehrt er nie«, was der Jing Ke gesagt haben soll, als er sich zum Attentat auf den Ersten Kaiser aufmachte, und so weiter. Literarisch sehr begabt.
    LIAO YIWU:
    Ich habe mir sagen lassen, dass Yu Dongyue ein sehr begabter Dichter ist.
    YU ZHIJIAN:
    Es gibt einen Stegreifvers von ihm, an den ich mich noch erinnere: Es gibt tausend Gründe, auf dieser Seite der Straße zu stehn; es gibt tausendundeinen Grund, auf die andere Seite zu gehn!
    LIAO YIWU:
    Der Impuls, die Grenzen zu überschreiten. Am Ende habt ihr das ja auch getan.
    YU ZHIJIAN:
    Als wir die Testamente fertig hatten, bekamen wir Hunger, haben unsere zwanzig Eier geschnappt und sie uns an einem kleinen Stand an der Nordseite der Goldwasserbrücke zubereiten lassen, eine flache Pfanne, mit dünnem Teig bestrichen, ein Ei drauf und Lauch drüber. In den vergangenen Tagen hatten wir zu viel von diesem typisch nördlichen Obst im Teigfladen in uns hineingestopft. Am Anfang waren sie noch golden, dufteten appetitanregend, denn das hatten wir in Hunan nicht bekommen, aber dann haben wir die kaum noch runtergekriegt, sie wären uns fast wieder hochgekommen.
    Anschließend haben wir die übriggebliebenen Eierschalen aufgesammelt und uns auf die Türschwelle zum Zhongshan-Park links vom Stadttor mit dem Mao-Bild gesetzt, eine Plastikfolie auf dem Boden ausgebreitet, uns auf eine Matte gesetzt und die Mao-Eier fabriziert. Das heißt, wir haben die Eierschalen mit der dunkelgrauen Ölfarbe gefüllt und sie dann eine nach der anderen verschlossen.
    Und dann haben wir das besondere Reispapier von ein Meter zwanzig auf achtzig auf dem Boden ausgebreitet, haben an einem passenden Spruchpaar gebastelt, der beste Spruch seit 1949 . Als ich den Satz heraushatte, war Yu Dongyue begeistert und hat auf einen Rutsch hingeschrieben: » 5000  Jahre Herrschaft gehen hier zu Ende, der Personenkult geht heute hier in Rente« – und quer darüber: Es lebe die Freiheit!
    Der Pfeil lag auf der Sehne, Yu Dongyue nahm die Kamera und hat den Doppelspruch »für die Ewigkeit« festgehalten. Lu Decheng und ich haben bei der Gelegenheit am Eingang des Zhongshan-Parks ein »Erinnerungsfoto« von uns gemacht. Ach, heute sind diese Sachen alle fest verschlossen in den Kriminalakten des Amtes für Öffentliche Ordnung!
    LIAO YIWU:
    Habt ihr eure »Revolutionsrelikte« einer vertrauenswürdigen Person hinterlassen?
    YU ZHIJIAN:
    Bei der Masse von

Weitere Kostenlose Bücher