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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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saßen also mit hängenden Köpfen und mutlos am Fuß der Gedenksäule und warteten darauf, was mit uns Missetätern geschehen sollte. Die Studentenführer fingen neben uns eine Diskussion an, das dauerte eine geraume Zeit. Schließlich erschien Polizei in Zivil, auf allen Seiten ein Kommen und Gehen, am Ende kamen sie in die Kommandozentrale und wollten uns. Die Studenten ließen sie elegant abblitzen. Da näherte sich uns eine Frau von der Seite und raunte mir ins Ohr: Die Sache entwickelt sich sehr zu euren Ungunsten, du solltest nach einem Schlupfloch suchen und schnellstmöglich verduften. Ich schüttelte sofort den Kopf, wir drei müssten unbedingt zusammenbleiben, ich könnte nicht einfach alleine abhauen. Daraufhin schwieg sie einen Augenblick und sagte dann, ich gebe dir meine Telefonnummer, wenn etwas ist und du Hilfe brauchst, dann ruf mich an! Ich versprach es. Damals war ich jung, ich hatte noch ein gutes Gedächtnis, sie sagte mir die Nummer einmal, und ich hatte sie im Kopf.
    LIAO YIWU:
    Hast du nicht gefragt, wer sie ist?
    YU ZHIJIAN:
    Nein. Ich nehme an, sie hätte es mir auch nicht gesagt. Aber nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, wollte sie mir wirklich helfen. Deshalb will ich sie hier ausdrücklich erwähnt haben.
    LIAO YIWU:
    Und weiter?
    YU ZHIJIAN:
    Dann war auf einmal alles anders. Ich habe die Frau und ihre Telefonnummer komplett vergessen. Wahrscheinlich würde ich sie nicht einmal erkennen, wenn sie jetzt vor mir stünde.
    LIAO YIWU:
    Und weiter?
    YU ZHIJIAN:
    Die Studentenführer erschienen und schauten, was los ist, bevor sie uns an die rechte Seite vor das Geschichtsmuseum mitnahmen. Sie planten auch eine inoffizielle Pressekonferenz mit in- und ausländischen Journalisten, eine ganze Reihe von Journalisten und eine Menge Leute warteten dort. Aber die Zeit war erstaunlich knapp, vier, fünf Minuten, und es war vorbei. Die Fragen gingen vor allem an Lu Decheng. Dann war da noch einer von den wichtigen Leuten des Selbständigen Zusammenschlusses der Hochschulen, der im Namen der gesamten Studentenschaft »die Angelegenheit aufklärte« und klarstellte, dass sie mit der ganzen Aktion nichts zu tun hätten, ihr Ziel sei es, demokratische Reformen voranzutreiben, da hätten derartige Feindseligkeiten keinen Platz, schon gar nicht dürfe man die Kommunistische Partei angreifen und das Bild des Vorsitzenden Mao zerstören. Und so weiter und so fort. Und so weiter und so fort. Mir ist schier der Kopf geplatzt.
    Anschließend war ich in einem Bus, Lu Decheng war auch da, und wir gaben dem Zentralfernsehen ein Interview. Es hatte angefangen zu regnen, vor den Scheiben war ein Gewimmel von Zelten und Ölplanen, ein Flickenteppich wie in einem Katastrophengebiet. Hoho, unerwarteterweise hat das sonst immer so behäbige offizielle Medium diesmal sehr schnell reagiert. Die Zeit für das Interview war sehr lang und schloss Fragen ein wie nach unserer Herkunft, was wir von Beruf seien, wie lange wir das Ganze geplant hätten, was der auslösende Impuls gewesen sei, ob wir nicht an die Folgen gedacht hätten, und so fort.
    Lu Decheng hat in aller Gemütsruhe geantwortet und außerdem erklärt, dass unsere Aktion mit den Studenten nichts zu tun habe. Ich habe mir später sagen lassen, dass die »Gemeinschaftsnachrichten« vom selben Tag in einer Sendung von fünf, sechs Minuten aus uns ein warnendes Exempel gemacht haben. In den Fernsehbildern waren auch Augenzeugen zu sehen, die man auf dem Tiananmen vor Ort zusammengesucht hatte, ein paar Studenten, Stadtbewohner, die die Geschichte erzählen und ihre Ansicht äußern durften. Ein Student sagte zudem: Um das zu machen, dazu gehört viel Mut, ich bewundere sie sehr. Hehe.
    LIAO YIWU:
    Ich habe dich auch zum ersten Mal in den »Gemeinschaftsnachrichten« gesehen. Der Grundtenor der Berichterstattung war »Vorwurf und Kritik«. Trotzdem, hinter der Kritik versteckte sich die ernste Sorge der Journalisten, sie machten sich Sorgen, dass die Aktion für die Bewegung und für alle schlimme negative Folgen haben würde.
    YU ZHIJIAN:
    Die negativen Folgen waren längst beschlossene Sache, solange der Geist Maos noch da war, solange Deng mit eiserner Faust regierte, solange die Herrschaft der Kommunistischen Partei ungebrochen war, führte jede Art von Widerstand zu einem Blutbad. Wir waren nichts als ein Intermezzo in dem ganzen Geschehen.
    LIAO YIWU:
    Andere wiederum sind der Ansicht, wenn man früher gewusst hätte, dass Blut fließen wird, hätte man

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