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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Menschen, mir ist niemand Vertrauenswürdiges eingefallen. Später dann haben wir drei eine einfache Arbeitsteilung vorgenommen: Ich hatte die größte Reichweite und war hoch gewachsen, also war ich dafür verantwortlich, den Menschenstrom aufzuhalten, der unter dem Mao-Bild unaufhörlich durch das Tor zog, und den Beginn der Aktion gegen Mao anzukündigen, während Yu Dongyue und Lu Decheng dafür zuständig waren, das Spruchband anzubringen und die Eier zu werfen. Dann ging jeder auf seinen Posten. Ich betrat als Erster die Bühne, lief auf das Mitteltor der Stadtmauer zu (über dem das Mao-Bild hängt) und hielt mit ausgebreiteten Armen die Passanten auf: Entschuldigung! Entschuldigung! Ich bitte Sie, einen Augenblick stehen zu bleiben! Das zog noch mehr Leute an, die alle nicht wussten, was das sollte. Ein Glück, dass mir ein paar Studenten zu Hilfe eilten, sonst hätte ich die Menge nicht aufhalten können.
    LIAO YIWU:
    Warum haben sie dir geholfen?
    YU ZHIJIAN:
    Seinerzeit waren Lu Decheng und ich gerade einmal fünfundzwanzig, sechsundzwanzig Jahre alt, Yu Dongyue sogar erst zweiundzwanzig (er war ein Wunderkind und hat mit achtzehn die Universität abgeschlossen), deshalb, so jung wie wir ausgesehen haben, haben uns die Studenten für ihresgleichen gehalten. Doch kaum hatte ich die Leute auf dieser Seite unter Kontrolle, haben wir rechts und links des Toreingangs die beiden flatternden Spruchrollen angeklebt. Wir waren so durcheinander, dass sie ein bisschen schief wurden. Direkt anschließend sind wir zurückgerannt, schätzten den besten Winkel und die beste Entfernung ab, und dann haben wir die Eier geworfen. Ursprünglich dachte ich, zwanzig Eier würden das Riesenbild von Mao komplett zusauen, das wären mehr als genug. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die beiden Dämlacken nicht so recht wussten, was sie sollten, sie warfen die Eier zu hoch oder zu niedrig, zu schräg oder zu schief oder mit zu wenig Kraft, so dass sie auf halbem Weg verhungerten und auf den Boden fielen. Ich sah hilflos zu, und dann ist mir der Kragen geplatzt: Verdammt, was macht ihr denn da? Aber es ging noch, es war nicht zu blamabel, von zwanzig Eiern haben drei getroffen, das Doppelkinn des Tyrannen hatte ein paar tüchtige Pockennarben abgekriegt.
    LIAO YIWU:
    Wie lange habt ihr für diese Aktion gebraucht?
    YU ZHIJIAN:
    Alles in allem fünf, sechs, für die Eieraktion zwei, drei Minuten. Das war alles wie im Traum, verschwommen, die Leute auf dem Platz haben überhaupt nicht reagiert. Die standen da wie gelähmt, bestürzt, es gab auch blinden Jubel und Beifall, als ich aus dem Traum erwachte, war die Sache gelaufen. Eine mehrschichtige Menschenwand schloss sich rauschend um die »Verbrecher«, es gab vorwurfsvolle Stimmen, die fragten: Was macht ihr denn? Wo kommt ihr her? Wer hat euch dazu angestiftet? Auch die Streikposten der Studenten kamen angerannt und haben die Leute auseinandergetrieben. Ich stand gerade am Rand, konnte nur die Köpfe der anderen beiden sehen. Ich hörte nur ungenau, wie in der Menge alles durcheinander auf sie losging: Ihr führt nichts Gutes im Schilde, ihr wollt uns alle ruinieren, ihr wollt diese patriotische Bewegung zerstören. Der von den geplatzten Eiern völlig mit Farbe zugesaute Lu Decheng tat sein Bestes, um mit ihnen zu debattieren, es sei gerecht, Mao Zedong da herunterzuholen, und es sei legitim, wir haben nichts Schlechtes getan! Und ich habe aus der Distanz heraus geklatscht und ihn unterstützt: Er hat recht!
    Der Student neben mir war echt die Härte, er deutete auf meine Nase: Wenn du nichts damit zu tun hast, dann misch dich nicht rein! Ich sagte, natürlich geht mich das was an, ich gehöre zu denen! Hehe, da war ich ihnen auch ins Netz gegangen, wurde von den Studenten festgenommen und zu ihrer Kommandozentrale auf dem Platz gebracht.
    LIAO YIWU:
    Vom Tianan-Tor zur Kommandozentrale auf dem Platz?
    YU ZHIJIAN:
    Richtig, unterhalb von der Heldengedenksäule.
    LIAO YIWU:
    Seid ihr geschlagen worden?
    YU ZHIJIAN:
    Sie haben uns hin und her gezerrt und geschubst, Gegner und Befürworter, es ging ziemlich rau zu. Aber die Streikposten der Studenten haben uns geschützt.
    LIAO YIWU:
    Und dann?
    YU ZHIJIAN:
    Wir sind am Ende problemlos am Fuß der Gedenksäule angekommen, im Zentrum der Studentenbewegung, wo wir uns vorher noch so den Kopf zerbrochen haben, wie man da hinkommt, und es nicht geschafft haben. Trotzdem, auf diese Weise reinzukommen, war nicht besonders gut.
    Wir drei

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